In Gedanken bei dir (German Edition)
Lachen, wenn ich hier auf der Isolierstation mit ihr herumtobe, Cassies
Hoffnung, dass wir unser Kind retten können, der Trost der Menschen, die über
unsere Website und übers Fernsehen Anteil an unserem Leben nehmen, die uns ihre
guten Wünsche mailen und für Jolie beten, die Unterstützung durch Nick und
Dich, Marlee, das alles verstärkt noch dieses Gefühl von ... ja, von stillem
Glück.
Ihre Geburt habe ich
verpasst. Das Gefühl, mein Kind zum ersten Mal im Arm zu halten, es zu wiegen
und es lieb zu haben, habe ich nie kennengelernt. Aber das Bewusstsein, die
Erfahrung, Jolie ein neues Leben zu schenken, kommt dem wohl sehr nahe.
Und ich kann nicht
sagen, wie sehr ich diese Nähe zu Jolie genieße. Jetzt gerade liege ich neben
ihr, fühle die Wärme ihres kleinen Körpers, der sich voller Vertrauen und Liebe
an meinen kuschelt, spüre ihren zarten Herzschlag und ihren warmen Atem. Dieses
Kind hat eine atemberaubende Kraft und eine Stärke, die ich nur bewundern kann.
Jolies Anblick rührt mich, und mir kommen die Tränen. Sie ist mein kleines
Mädchen. Meine Liebe. Mein Leben.
Verzeih mir, Marlee,
ich bin immer noch sehr aufgewühlt und muss schon wieder weinen. Ich schreib
Dir morgen wieder.
Ich liebe Dich,
Alex
Wo war ihr Handy? Ah, da auf dem Küchentresen,
neben dem Sushimesser.
Cassie
wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab und warf einen Blick auf das dunkle
Display. Keine SMS. Keine Antwort auf ihre Nachricht an Nick. Hatte er sie vor
dem Fernsehinterview nicht mehr gelesen?
Sie
warf einen Blick auf ihre Uhr: Es war kurz vor fünf. Eyewitness News at 5 ging gleich auf Sendung.
Mit
der Fernbedienung schaltete sie schon mal den Fernseher im Wohnzimmer ein und
drehte den Ton aus. Das Interview, das sie gestern Vormittag gegeben hatte,
hatte sie nie gesehen, weil sie in der Aufregung gestern Nachmittag vergessen
hatte, den Recorder zu programmieren. Heute Abend konzentrierte sich die
aktuelle Reportage nicht mehr auf die Mommy eines kranken Kindes, sondern auf
die beiden Daddys. Wie lebten sie zusammen? Wie kamen sie miteinander aus? Wie
gingen sie mit der Kleinen um? Eine echt tolle Story, das fand auch Marlee, als
sie vorhin eine Weile mit Cassie skypte. Sie rief an, um sich wieder nach Alex
und Jolie zu erkundigen. Marlee war erleichtert, dass die Krise überstanden
war, aber sie wirkte auch besorgt, weil Cassie ein wenig blass aussah: »Wie
geht’s dir eigentlich?«
Selbstverständlich
hatte Cassie ihr nichts verraten. Denn zuerst musste sie mit Alex darüber
reden. Und natürlich mit Nick.
Okay,
Nick, wo steckst du?
Cassie
nahm ihr Smartphone, klickte durch die Liste und öffnete ihre SMS an ihn. Ah,
da stand es: Viertel nach drei hatte sie sie abgesandt.
Langsam
atmete sie aus und legte das Handy wieder auf den Küchentresen, auf dem sie
gerade süßes Sushi mit Vitaminen und Antibiotika für Jolie vorbereitete. Sie
wollte es nachher in die Klinik mitnehmen, wenn sie Alex auf der Isolierstation
ablöste. Cassie hatte keine Ahnung, ob Jolie das süße Sushi überhaupt essen
konnte, denn seit der Transplantation wurde sie hauptsächlich durch ihren
Hickman-Katheter ernährt. Eine Nebenwirkung der Medikamente bestand darin, dass
nichts mehr schmeckte, wie es schmecken sollte. Jolie hatte sie gebeten, ihr
eine große Portion von ihrem Lieblingsessen mitzubringen. Cassies Tasche für
die nächsten fünf Tage und Nächte in der Klinik stand schon gepackt neben der
Tür.
Ob
Nick noch kommt?, fragte sie sich.
Mit
den Fingerspitzen rieb sie einen grünen Fleck von der schwarzen Granitplatte.
Wasabi? Sie leckte am Finger. Nein, es war Kiwipüree.
Aber
wie sage ich Nick, dass Alex und ich es noch mal versuchen wollen?, dachte sie.
Wie sage ich ihm, dass eine Ehe mit Kind zu viert einfach nicht funktioniert,
wenn zwischen den Männern Spannungen herrschen, weil beide um ihre Frau und ihr
Kind kämpfen? Und wie sage ich ihm, dass ich ihn immer noch liebe? Dass ich ihm
dankbar bin für das, was er für Jolie tut? Dass es mir wehtut, mich von ihm zu
trennen, und dass es mir das Herz zerreißt?
Wie
sage ich ihm das alles, ohne dass ich mich und ihn daran erinnere, wie ich mich
nach Katies Tod von ihm getrennt habe? Wie viel Schmerz war damals in mir
gewesen! Das alles ist doch erst ein Jahr her!
Und
jetzt das!
Cassie
war doch selbst so überrascht von der winzig kleinen Sensation, die immer noch,
einen Tag später, so unbeschreiblich tiefe Gefühle in ihr auslöste wie
Weitere Kostenlose Bücher