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In grellem Licht

In grellem Licht

Titel: In grellem Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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deinen
Vorgesetzten, lüge nicht, um deine Fehler zu vertuschen! Für gewöhnlich waren es die Lügen, die John
zugrunde richteten. Maggie, der anständigste Mensch, den ich
kenne, wurde von Johns Lügengeschichten gelegentlich an den Rand
des Wahnsinns getrieben. Ich wich vor einem Konflikt mit John stets
zurück; Maggie war im ganzen Leben noch vor nichts
zurückgewichen.
    Ich nickte. »Ich sage es ihr«, versprach ich.
Ȇberleg es dir noch mal wegen morgen Abend, John. Laurie
kommt doch immer gern zu uns, scheint mir.«
    »Ja.« Kein Lächeln diesmal. »Ich weiß
natürlich, daß ihr Laurie sehen wollt und nicht
mich.«
    »Nein, wir wollen euch beide sehen«, stellte ich
emotionslos richtig. »Viel Glück bei der
Jobsuche.«
    »Danke.«
    Er ging; mit keinem Wort hatte er sich nach dem Grund für
meinen Stock erkundigt, nach dem Grund meines unsicheren Gangs oder
nach dem Grund für mein herabhängendes rechtes Augenlid.
Ich goß mir den zweiten vom Doktor verbotenen, aber von der
Situation geforderten Drink ein.
    Dies ist einer der am schwersten zu verkraftenden Sätze, die
Eltern sich je eingestehen können: Ich mag mein Kind
nicht.
    Hab Verständnis, sagte Maggie in meinem Kopf, er
und Laurie wünschen sich so sehr ein Baby… die nervliche
Belastung muß gewaltig sein.
    Ja, das sah ich sogar ein. Obwohl ich vermutete, daß die
nervliche Belastung in erster Linie Laurie betraf und nicht John. Es
gibt Frauen, bei denen der Wunsch, ein Kind zu umsorgen und zu
lieben, mehr als nur ein Wunsch ist: es ist ein biologischer Hunger.
John, so schien es mir manchmal, interessierte sich weniger
dafür, Vater zu werden, als dafür, daß ihm dies
ungerechterweise nicht vergönnt war. Vor etwa einem Jahr hatte
er mir per E-mail >irrtümlich< eine Eintragung in sein
Tagebuch gesandt:
     
    Mein Vater, Dr. Nicholas Clementi, führt seine Abstammung
auf Muzio Clementi zurück, den unglaublich beliebten
Zeitgenossen Mozarts. Clementi war der unbestrittene Klaviervirtuose
seiner Zeit. Er beeinflußte Haydn und Beethoven und liegt in
der Westminster-Abtei begraben. Heute ist Clementi vergessen; Mozart
hingegen ist eine Legende. Der Stolz meines Vaters auf diesen
Ahnherrn soll unterstreichen, mit welcher Bescheidenheit er seinem
eigenen überwältigenden beruflichen Renommee
gegenübersteht. Sic transit gloria mundi, selbst eine gloria, die sich auf Mikrobiologie gründet. Er nimmt wohl
für gegeben an, daß Alter stets von mystischer, objektiver
Weisheit begleitet sein muß, und wenn er daher über das
entsprechend hohe Alter verfügt, muß er auch über den
Rest verfügen – und ist verpflichtet, ihn zur Schau zu
stellen. Und das tut er auch. Mein Vater ist weise – immer und
überall.
    Ich hingegen erwähne Muzio Clementi nie. Wenn man keine
Nachkommen hat, die den Namen weitertragen könnten, wozu sich
interessieren für denjenigen, der ihn uns überliefert
hat?
     
    Ich wanderte durch das Wohnzimmer und strich über Maggies
Nippsachen. Ein Messingkrug, eine kleine Skulptur, eine Bonbonschale,
ein gerahmtes Bild unserer Berghütte. Ich mußte mich
ablenken. Aber irgendwie konnte ich mich nicht recht auf meine
wissenschaftlichen Zeitschriften konzentrieren, ja nicht einmal auf
das Fernsehen, in dem gerade eine Sendung lief über >das
angebliche Problem endokriner Disruptoren, die aus
Plastikhaushaltsartikeln herausgelaugt werden<. Das Problem,
erklärte ein männlich-schöner Schauspieler in einem
weißen Labormantel, war ein eingebildetes, offenbar verursacht
von einigen mangelhaft durchgeführten Studien. Die
Öffentlichkeit sollte sich beruhigt auf die grandiose,
nimmermüde Wachsamkeit der Lebensmittelbehörde verlassen
und die weitaus größeren Probleme in Betracht ziehen, die
uns ohne Plastik im Haushalt entstünden; vor allem sollte sie
die weitaus sorgfältiger durchgeführten Studien in Betracht
ziehen, deren Ergebnisse er sogleich zitieren würde. Sowohl die
Studien als auch die Sendung, fiel mir auf, waren >durch eine
großzügige Zuwendung der Amerikanischen
Plastikherstellerstiftung< ermöglicht worden.
    Ich war richtiggehend dankbar, als das Haussystem
dazwischenfunkte: »Doktor Clementi, ein Vidgespräch
für Sie.«
    Ich übernahm es auf meinem Armband. Eine Computerstimme
sagte: »Dieser Anruf kommt aus der Haftanstalt des
Prince-George-Bezirks«, und dann war sie auf dem Schirm, als
winziges, zerrauftes, wütendes Bild.
    »Doktor Clementi? Hier spricht Shana Walders! Ich rufe aus
dem Knast an!«
    »Ja,

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