In grellem Licht
Alternativen,
die für Sie zur Wahl stehen.«
»Und was ist die ganze Geschichte, Nick?« fragt
Shana. »Und werden sie die… diese Dinger zerstören,
die ich im Labor gesehen habe, mit Camerons…«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber Sie und ich, wir
werden es ohnehin nie erfahren. O Gott, bin ich müde. Ich bin
direkt vom Flughafen hergefahren.«
Trotz meiner Benommenheit überrascht es mich, daß er
auf diese Weise um Mitleid bettelt. Er scheint mir gar nicht der Typ
dafür. Aber dann sehe ich, wie Shana seine Hand drückt, ihr
Gesicht wieder ganz sanft wird, und da wird mir klar, weshalb er es
getan hat.
»Das Problem ist«, fährt Doktor Clementi fort,
»daß es so wenige von euch Kindern gibt. Ihr seid
tatsächlich ein kostbares Gut. Und wenn etwas kostbar ist, dann
bemüht sich jeder, es zu beschützen. Auch vor der Wahrheit.
Niemand hat euch die Wahrheit gesagt über das, was euch
widerfahren ist seit dem Tag, an dem Cameron wegen seiner ethnisch
schwer faßbaren Schönheit entführt wurde. Jetzt werde
ich euch die Wahrheit sagen. Ja, Shana, dieser Raum ist zweifellos
verwanzt, aber ich werde euch dennoch die Wahrheit sagen, und dann
werden wir zu dritt entscheiden, was zu tun ist. Wenn uns der Staat
läßt.«
Doktor Clementi bricht ab und läßt den Blick die
Wände entlangwandern. Ich halte den Atem an, und ich glaube,
Shana ebenfalls. Aber niemand kommt herein. Niemand will ihn an
seinem Vorhaben hindern.
Und dann sagt er es uns. Er berichtet, was mit mir passiert ist
– wie und warum und wer es zuließ. Das gleiche für
Shana. Ich will es gar nicht hören, ich möchte lieber im
Geist proben, etwas wie den wunderschönen pas de deux aus Sommersturm: promenade in der attitude, und enden mit
der Hebefigur… aber ich kann nicht. Ich muß zuhören.
Doktor Clementi sagt uns alles.
Als er damit fertig ist, sinkt sein Körper gegen die
Rückenlehne des Sofas. Shana sagt: »Dreckschweine«,
und er lächelt matt.
»Auf wen im speziellen beziehen Sie sich, Shana?«
»Auf alle.«
»Nun, das trifft nicht unbedingt zu. Jedenfalls müssen
wir uns entscheiden, ob…«
»Das sehe ich selber, Nick! Ob wir in Zukunft so tun sollen,
als hätte weder eine Entführung noch eine Kastration noch
sonstwas stattgefunden, oder ob wir Alarm schlagen!«
»Und damit schlagartig sämtliche Forschungen beenden,
von denen eine Lösung der Probleme mit den endokrinen
Disruptoren erwartet werden könnte«, fügt Doktor
Clementi hinzu. »Dieses Detail dürfen wir dabei nicht
vergessen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß wir…«
»Ich sage gar nichts«, unterbricht sie Doktor Clementi
unwirsch, und das ist das erste Mal, daß er wie ein alter Mann
klingt. »Ich frage euch beide, die ihr von all dem
zutiefst persönlich betroffen seid, welche Entscheidung ihr
treffen wollt. Cameron?«
Ungeduldig setzt Shana an: »Cam will…«, doch Doktor
Clementi fällt ihr ins Wort: »Cameron soll das selbst
sagen.«
»Aber er…«
»Shana! Lassen Sie Cameron doch selbst sagen, was er
will!«
»Ich will bloß tanzen!«
Sie sehen mich beide an, und ich weiß, was ihre Blicke zu
bedeuten haben. Ich kann nicht mehr >bloß tanzen<.
Für mich existiert keine Möglichkeit mehr, bloß zu
tanzen, zu vergessen und dem zu entrinnen, was mir widerfahren ist.
Wir drei müssen uns entscheiden, was am besten zu tun ist, also
müssen wir auch unsere Erinnerungen mit einbeziehen – alle.
So ist es nun einmal. Und selbst das Tanzen kann das für mich
nicht ändern, nie mehr.
21
NICK CLEMENTI
Es ist schrecklich, Menschen im Stich zu lassen, die einem
vertraut haben. Und noch schlimmer ist es, das im TV vor Millionen
Zusehern zu tun.
Die Bühne wurde von oben und von vorn beleuchtet. Die
Scheinwerfer erzeugten Hitze, und die Creme der Wissenschaft, die in
einer Reihe auf der Bühne saß, begann zu schwitzen –
kleine, deutlich sichtbare Wassertröpfchen, die sich ihren Weg
durch dünnes graues Haar, in Hemdkrägen und über
konservativen hellroten Lippenstift bahnten. Außerdem blendeten
die Lampen. Ich war nicht der einzige auf der Bühne, der nicht
in der Lage sein würde, die Gesichter in dem zum Bersten vollen
Ballsaal des Hotels zu unterscheiden. Aber im Unterschied zu den
anderen wußte ich genau, wer da unten saß – und bei
einigen von ihnen sogar, wo.
Shana in ihrer neuen Armeeuniform würde in der zweiten Reihe
sein; sehr aufrecht, sehr ernst, sehr jung. Sallie, die ihren Posten
beim Zentrum wieder bekleidete, saß zusammen
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