In guten wie in toten Tagen
jetzt rechts ab.
Vitali glaubte ihr nicht.
»Das war alles ein bisschen viel für dich in letzter Zeit«, sagte er. »Toms Ermordung und Helenas Verhaftung und der Stress mit der Polizei.«
»Was meinst du denn damit?«, fragte sie wütend. »Ich bin nicht bekloppt, falls du das andeuten willst.«
»Nee. Aber du bist total am Ende. Vorhin dieser Schwächeanfall auf dem Parkplatz. Du schläfst auch zu wenig. Du kannst nicht mehr, Cara, so sieht’s aus.«
»Vitali«, sagte sie ganz langsam. »Ich weiß, was ich gesehen habe. Das war Isy, hundertpro, ich kenn sie doch.«
»Du hast doch vor Kurzem noch mit ihr geskyped. Am Wochenende oder so.«
»Samstagabend.«
»Und heute ist Montag. So schnell kann sie doch kaum hergeflogen sein.«
»Vielleicht hat sie mich angelogen. Vielleicht hat sie uns alle angelogen. Weil sie nämlich die ganze Zeit schon in Deutschland war.« Ihr Gespräch mit Isy. Irgendetwas hatte sie gestört, irgendetwas war ihr dabei komisch vorgekommen. Aber was? Caras Kopf dröhnte wie ein alter Fernseher.
»Als du bei Helena warst, hast du mit ihr über Isy gesprochen, oder?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Na und?«
»Sie war in deinem Kopf. Und als die Türkin über die Straße gerannt ist, da hast du Isy in ihr gesehen.«
»Die Türkin? Nur weil die Frau ein Kopftuch aufhatte, muss es doch noch lang keine Türkin gewesen sein.«
»Wir sehen, was wir sehen wollen«, sagte Vitali.
Ihr Kopf dröhnte jetzt noch lauter. Sie suchte nach Argumenten, nach Beweisen und fand nur Zweifel. Und glaubte sich plötzlich selbst nicht mehr.
Vitali hatte recht. Sie war fertig, sie war total erschöpft, sie hatte drei Bier und einen Wodka getrunken und sie hatte an Isy gedacht, als die Frau mit dem Kopftuch plötzlich aus dem Haus gekommen war. Sie hatte sich geirrt.
»Mein Kopf tut weh«, sagte sie leise.
»Ich bring dich heim«, sagte Vitali.
Er küsste sie auf die Wange, als er sich vor dem Haus von ihr verabschiedete. Ganz zart, kaum spürbar, genau wie beim letzten Mal. Aber dieses Mal ließ sie ihn nicht gehen, dieses Mal griff sie nach ihm, sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn zuerst auf den Hals und dann auf den Mund. Und küsste ihn richtig, küsste ihn so hart, dass ihre Zähne gegen seine schlugen, dass er erschrak und einen Moment zurückwich, aber dann fasste er sich und griff nach ihr. Und hielt sie fest. Sie zog ihn in den Schatten der Ligusterhecke und fuhr mit ihren Händen unter sein T-Shirt und spürte seine nackte, warme Haut und seine Muskeln und seine Erregung.
Und wollte, dass auch er sie berührte, dass er sie auszog und ihren nackten Körper ansah, hier, mitten auf der Straße, aber er hielt sie nur fest. Seine Hand streichelte ihr Haar, seine Hand war so groß, dass sie ihren ganzen Hinterkopf umfing. Sie hörte ihn etwas murmeln, das sie nicht verstand, vielleicht war es Russisch.
Dann ging über ihnen die Laterne an und warf ihr gelbes Licht auf sie.
Und sie sah sein glückliches Gesicht und sah ihre Hände unter seinem T-Shirt und hörte Helena. Helena sagte: Du hast doch wirklich was Besseres verdient, Cara.
Da machte sie sich von ihm los.
»Gute Nacht, Vitali.«
Sein Lächeln flackerte ein bisschen wie die Straßenlampe über ihnen.
»Gute Nacht, Cara.«
Sie rannte ins Haus, ohne sich noch mal zu ihm umzudrehen.
Sie schlief sofort ein. Und schlief lange, zumindest länger als in den letzten Nächten. Es war fünf Uhr morgens, als sie aus dem Schlaf schreckte. Sie hatte wieder geträumt, aber dieses Mal war der Fremde nicht gekommen. Dieses Mal hatte sie von Vitali geträumt. Von Vitali und von Violas Benny, den sie doch kaum kannte. Von Aaron und Max und ihrem früheren Klavierlehrer Herrn Pautsch und von anderen Männern und mit allen hatte sie geschlafen in ihrem Traum.
Was ist nur mit mir los?, dachte sie erschrocken, während sie zum Fenster ging. Draußen wurde es gerade hell. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, dass jemand im Schatten der Ligusterhecke stand und zu ihrem Fenster hochstarrte. Aber als sie genauer hinsah, war da niemand. Ich verliere den Verstand, dachte sie. Ich sehe Menschen, die gar nicht da sind. Ich mache Dinge, die ich gar nicht will.
Auf der anderen Seite der Hecke hatte sie Vitali geküsst. Die Erinnerung machte sie schwindlig, ließ ihre Knie weich wurden, sie musste sich am Fensterbrett festhalten, um nicht umzufallen. Was würde Helena dazu sagen? Na komm, würde sie sagen. Mach dich nicht verrückt. War
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