In guten wie in toten Tagen
wusste sie, dass es ungefähr viermal so viel wert war wie ihr eigenes Reihenhaus. Und dass man Isy nicht wirklich bemitleiden musste.
Der Bus hielt genau vor dem Vorgarten, in dem Buchsbaumkugeln aus einer strahlend weißen Kiesfläche wuchsen. Dazwischen standen verrostete Eisengebilde. Kein Schrott, sondern Kunst. Über eine sorgsam geharkte Zufahrt ging Cara zum Haus, das aus zwei aufeinandergestapelten Betonklötzen bestand. Eine breite Treppe führte hoch zum Eingang, eine andere zur Garage unter dem Haus.
Über dem Eingang war eine Kamera, die jeden filmte, der vor der Tür stand. So konnte man vom Wohnzimmer aus sehen, ob einen draußen der Postbote oder ein Mörder mit einer Axt erwartete. Sofern der Mörder nicht clever genug war, sich als Postbote zu verkleiden.
Cara drückte die Klingel und spähte durch das schmale, hohe Fenster in der Edelstahltür. Glänzender grauer Estrich, weiß verputzte Wände, Designerleuchten, die riesige Porzellanvase mit der Kokospalme, das abstrakte Gemälde neben dem Treppenaufgang – hier war die Zeit stehen geblieben. Alles sah ganz genauso aus wie früher.
Es schien aber niemand zu Hause zu sein. Isys Vater war bestimmt bei der Arbeit. Und Isys Mutter … Cara versuchte sich zu erinnern, ob Frau von der Stein überhaupt berufstätig war. Nötig hatte sie es jedenfalls nicht, Herr von der Stein hätte mit seinem Einkommen locker drei oder vier Familien ernähren können.
Sie wollte gerade wieder gehen, als doch noch jemand in den Flur trat. Isys Mutter eilte zur Tür. Als sie sich gegenüberstanden, musterte sie Cara einen Moment lang verständnislos, dann weiteten sich ihre Augen.
»Cara. Ich hätte dich fast nicht erkannt. Na, das ist aber eine Überraschung!«
Cara hätte Frau von der Stein dagegen immer und überall erkannt. Auch an ihr schien die Zeit spurlos vorbeigegangen zu sein. Ihre Haut war braun gebrannt, straff und glatt, sie sah viel jünger aus als Caras Mutter. Obwohl sie in Wirklichkeit fünf oder sechs Jahre älter war. Die Haare waren blond gesträhnt und frisch geföhnt, die Klamotten schlicht, aber teuer: dunkle Röhrenjeans, weiße Seidenbluse, marineblauer Pullunder.
»Hallo. Ich hoffe, ich störe nicht.«
»Natürlich nicht. Was gibt’s denn?«
»Ich … äh … ist Isy vielleicht da?«
»Isy?« Frau von der Stein machte ein Gesicht, als hörte sie den Namen zum ersten Mal. »Isy ist zum Studium in Harvard, sie lebt doch in Amerika. Hat dir das Helena nicht erzählt?«
»Doch, natürlich. Aber ich war mir sicher … ich dachte, ich hätte Isy gestern Abend gesehen.«
»Hier in Geldern?« Frau von der Stein lachte. »Na, das wär aber ein Ding!« Dann wurde sie wieder ernst. »Nein, Cara, Isy ist nicht hier. Aber sag mal, wie geht es denn Helena? Das ist ja eine schreckliche Geschichte, die ich da gehört habe.«
»Helena war das nicht«, sagte Cara. »Sie hat Tom nicht umgebracht.«
»Natürlich nicht« sagte Frau von der Stein. Dann schüttelte sie den Kopf. »Warum stehen wir eigentlich die ganze Zeit an der Tür? Jetzt komm doch erst mal rein. Willst du einen Tee?«
Bevor Cara sich wehren konnte, hatte Frau von der Stein sie auch schon ins Haus gezogen.
Das Wohnzimmer war groß und hoch wie eine Scheune. Eine Wand bestand aus einem Fenster, die andere nahm ein riesiger Kamin ein, neben dem sich Holzscheite stapelten. Das Sofa, der Flügel, die Farnwedel in dem Topf neben der Tür, alles war überdimensioniert. Ein Haus für Riesen, dachte Cara.
»Sieh dich nicht um«, sagte Frau von der Stein. »Hier herrscht das totale Chaos.« Das hatte sie früher auch immer gesagt. Es hatte aber damals genauso wenig gestimmt wie heute. Das einzige Zeichen von Unordnung waren ein paar Rosenblätter, die von einem Blumenstrauß auf einen Glastisch gefallen waren. Und eine leere Kaffeetasse, die auf dem Esstisch stand.
»Setz dich doch, bitte.« Frau von der Stein deutete auf den immensen Esstisch am Fenster. »Tee? Kaffee?«
»Danke«, sagte Cara. »Ich hab nicht viel Zeit.«
Eigentlich gar keine. In einer Viertelstunde musste sie wieder bei der Arbeit sein. Und vorher sollte sie noch etwas essen. Sie hatte ja heute noch nicht einmal gefrühstückt.
Sehr richtig, sagte ihr Magen und knurrte laut.
»Sag mal, möchtest du etwas essen?«, fragte Isys Mutter sofort. »Suppe. Ich hab Suppe da.« Sie verschwand in der Küche, bevor Cara widersprechen konnte. Und kam ein paar Minuten später mit einer dampfenden Suppentasse zurück ins
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