In guten wie in toten Tagen
doch nur ein Kuss. Das kommt in den besten Familien vor, dass man mal mit einem knutscht, den man eigentlich gar nicht will.
Aber Cara wollte Vitali ja. Hatte ihn zumindest gewollt, gestern Nacht.
Wie sollte sie ihm das nur erklären? Gar nicht, dachte sie. Ich tu einfach so, als ob nichts geschehen wäre. War ja nur ein Kuss.
Helena wird nichts davon erfahren, dachte sie.
Erst als sie sich die Zähne putzte, fiel ihr die Frau mit dem Kopftuch wieder ein. Sie versuchte, sich an das Gesicht zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Vielleicht hat Isy eine Doppelgängerin in Geldern, dachte sie. Das würde natürlich alles erklären. Das Bier und der Wodka waren natürlich auch eine Möglichkeit.
Sie hatte keinen Hunger, zwang sich aber trotzdem, eine paar Löffel Müsli zu essen, bevor sie zur Arbeit fuhr. Vitali war noch nicht da, als sie ankam. Auch nachdem sie sich umgezogen hatte, war er noch nicht erschienen. Vielleicht ist er krank, dachte sie erleichtert. Oder er ist zu Hause geblieben, weil ihm die Sache genauso peinlich ist wie mir.
Aber im selben Moment radelte er pfeifend auf den Hof.
»Guten Mittag!«, schrie Renzo aus der Anzuchthalle, obwohl Vitali höchstens fünf Minuten zu spät war.
Vitalis Gesicht zeigte keine Regung, er schien Renzo gar nicht gehört zu haben. Er steuerte auf den Nebenraum zu, in dem sie ihre Arbeitsklamotten aufbewahrten, dann sah er Cara. Und blieb stehen und lächelte sie an und sah so glücklich aus, da wusste sie, dass die ganze Sache viel komplizierter war, als sie gehofft hatte. Sein Lächeln stach ihr ins Herz und gleichzeitig fühlte sie ein seltsames Ziehen im Bauch, das sie irritierte.
Er sah ihr ernstes Gesicht und verstand. Und hörte auf zu lächeln. »Bis gleich«, sagte er und verschwand im Nebenraum.
»Ist schon okay«, sagte er, als sie mit dem Lieferwagen in den Park fuhren. »Du musst nichts sagen, Cara. Ich versteh schon.« Er lächelte wieder, nur dass es nicht mehr so glücklich aussah wie vorhin.
Sie nickte skeptisch, aber das bemerkte er nicht, weil er am Steuer saß und auf die Straße schaute.
Sie arbeiteten den ganzen Vormittag schweigend nebeneinanderher. Hin und wieder versuchte Cara, ein Gespräch anzufangen, sie machte eine Bemerkung über das Wetter, den lehmigen Boden, den dicken Mann, der mit einem fetten Mops spazieren ging, und Hund und Herr schnauften im Gleichtakt. Vitali antwortete einsilbig und dann plätscherte die Unterhaltung noch ein paar Minuten kraftlos dahin, bis sie wieder versiegte.
»Sollen wir was essen gehen?«, fragte sie, als es endlich Mittag war. Obwohl sie keine rechte Lust hatte, mit Vitali zur Pommesbude zu fahren. Schweigen konnte sie auch allein.
Er warf seine Arbeitshandschuhe in die Schubkarre und zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal. Wenn du magst.«
Nein, dachte sie. Und schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
»Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch in den Supermarkt muss. Und in die Drogerie.«
Er nickte gleichgültig. »Dann bis nachher.«
Sie ging auch wirklich in Richtung Supermarkt, aber auf dem Weg fiel ihr das Kopftuchmädchen wieder ein. Das ausgesehen hatte wie Isy. Und auch so gegangen war wie Isy, sie wippte beim Gehen immer ein bisschen in den Knien.
Sie ging an einer Bushaltestelle vorbei, als sie das dachte. Linie 1 stand auf dem Schild neben dem Wartehäuschen. Die Linie 1 fuhr direkt an Isys Haus vorbei. »Warum fahr ich nicht einfach mal hin?«, murmelte Cara. »Mal sehen, wer zu Hause ist.«
Isy wohnte nur drei Parallelstraßen von Cara und Helena entfernt, aber es war eine andere Welt. In Caras Straße sah ein Reihenhaus aus wie das andere. Rote Klinkerfassaden, schwarze Dächer, weiße Kunststofffenster, sogar die Vorgärten ähnelten sich auf verblüffende Weise. Tulpen im Frühling, Astern im Herbst.
In Isys Straße war das anders. Da stand eine Südstaatenvilla mit weißen Säulen und Veranda neben einem romantischen Schlösschen mit Erkern und Türmchen neben einem Landhaus mit grünen Fensterläden und geschwungenen Holzbalkons neben einem modernen Architektenhaus mit einem Flachdach, auf dem Gras wuchs.
Das war Isys Haus.
Als Cara klein gewesen war, war sie abends oft mit ihrer Mutter hierhergekommen, um Helena nach dem Spielen abzuholen. Isy hatte ihr damals immer ein bisschen leidgetan, weil sie in einem so schrecklichen Haus leben musste. Der Eispalast. So hatte Cara das Haus in Gedanken genannt.
Heute fand sie das Haus immer noch schrecklich, aber inzwischen
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