In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
einer Zeit erzählte, in der wir beide noch nicht auf der Welt gewesen waren: Überlieferungen von Trollen, Wichteln und Wassergeistern, aber auch Klatsch und Tratsch, den er in seinem Leben steten Beobachtens und Hörensagens aufgeschnappt hatte – Fetzen und Bruchstücke unverlässlicher Geschichten über die Walfangtage auf Andøya, Erinnerungen an die Nazibesatzung, angeblich wahre Berichte über mit Fischschuppen oder Bocksfüßen geborene Kinder. Meist hatte ich sie natürlich schon einmal gehört, doch bekam ich nie genug davon, da sie immer ein wenig neu waren und sich ständig änderten. Die meisten Menschen hielten sie für amüsant, nahmen sie aber nicht ernst. Kyrre schon – und ich glaube, auf gewisse Weise auch Ryvold. Der Unterschied war nur, dass Ryvold in ihnen den Schlüssel zu versteckter Bedeutung sah. Die alten Geschichten seien wahr, sagte er, nur faktisch eben nicht korrekt. Für ihn war das was Philosophisches, Theoretisches. Kyrre aber zählte eher zu den Fundamentalisten. In seinen Geschichten waren die Teufel so wahrhaftig wie alles andere, dort gab es immer etwas Grässliches, Erstaunliches, verborgen hinter einer Fassade, die sich die Menschen schufen, um in deren Schutz jene Bräuche zu praktizieren und Gebete zu sprechen, die Sterblichen ein Gefühl der Sicherheit geben; mir hat stets der Augenblick gefallen, in dem sie die Oberfläche durchbrechen und niemand mehr weiß, wie die Illusion von Ordnung noch länger aufrechterhalten werden kann.
Das war es vermutlich, was mir an der Huldra -Geschichte gefiel, zumindest zu Beginn. Ich weiß nicht, wann Kyrre sie zum ersten Mal erzählt hat, doch weiß ich, dass es lange vor jenem Sommer gewesen sein muss, in dem die beiden Jungen ertranken und er von Maia wie besessen war. Damals erzählte er sie bereits seit Jahren, kam immer wieder darauf zurück, so wie auf all seine Geschichten, variierte sie mit jedem Erzählen ein wenig, setzte hier neue Details hinzu, verschob dort die Gewichtung, doch war der grundlegende Handlungsstrang immer derselbe: Ein junger Mann geht im Wald oder am Strand spazieren, trifft dort auf ein unfassbar schönes Mädchen und verliebt sich – nun, vielleicht begehrt er die junge Frau auch nur so sehr, dass er sich einredet, verliebt zu sein. Er ist ihr zumindest dermaßen verfallen, dass er ihr überallhin folgt, ihr gänzlich ausgeliefert und anfangs auch überglücklich, da er glaubt, sie würde seine Liebe erwidern. Sie lächelt, lockt ihn zu sich, führt ihn unter die Bäume oder am Strand entlang – und doch könnte er, wenn er nur hinsähe, erkennen, dass sie eine Illusion ist und keine Substanz hat. Von vorn betrachtet, ist sie vollkommen schön, absolut begehrenswert, doch gelänge es ihm nur, hinter die schöne Maske zu sehen, würde er entdecken, dass in ihrem Rücken eine bestürzende Leere klafft, ein winziger Riss im Gewebe der Welt, durch den alles ins Nichts fällt. Aber er sieht kaum hin – so wie er auch erst, als es bereits zu spät ist, entdeckt, dass dieses Mädchen, diese Geliebte, eigentlich ein scheußlicher Troll mit einer widerlich hässlichen Fratze und einem Kuhschwanz unter dem leuchtend roten Kleid ist. Das sieht er natürlich erst, als sie ihn bereits zu einem entlegenen, einsamen Platz gelockt hat, dorthin, wo das Chaos lauert: düstere Felsen, wilde Tiere, eine kalte, schnelle Unterströmung.
Die Geschichte ist perfekt, wenn auch ein Klischee, und da es in ihr letztlich um das Chaos geht, war sie schon immer Kyrres Lieblingsgeschichte, die düsterste, die beste, jene, die er am häufigsten und mit größtem Vergnügen erzählte. Sie ist zudem sehr bezeichnend, denn Kyrres Erzählungen hatten alle eines gemein: Welche Form wir der Ordnung auch geben, wie kompliziert sie auch immer aufgebaut sein mag, bleibt sie letztlich doch eine Illusion, weshalb irgendwann irgendwas aus dem Hintergrundrauschen und dem Schatten vortritt und infrage stellt, woran wir so entschlossen glauben. Zumindest ist es so in seinen Geschichten – im wahren Leben ist dieses Etwas stets da und wartet, dem direkten Blick verborgen, nur darauf zu erwachen. Eine Redewendung, ein Makel, ein unausgesprochener Wunsch – es braucht nicht viel, die Schleusentore zu öffnen und das Chaos einzulassen. Damals war das nicht meine Ansicht – es war die von Kyrre –, heute ist sie es. Ich weiß nicht, ob die Huldra real existiert, aber ich weiß, dass es sie gibt und dass sie früher oder später ans Tageslicht tritt
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