In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Genau.«
» Also deshalb sind Sie gekommen?« Er spielte, aber es fühlte sich auch so an, als machte er eine Entdeckung.
Mutter lachte. » Genau«, sagte sie noch einmal.
» Also sind Sie nicht hergekommen, um allein zu sein?«
» Ganz und gar nicht«, erwiderte Mutter. » Hier geht es ruhiger zu, da gebe ich Ihnen recht. Und ich arbeite besser, wenn es ruhig ist, aber das dürfte Sie wohl kaum überraschen, oder?« Mutter schwieg einen Moment, und ich konnte spüren, wie sie die Ohren spitzte. Ich hatte ziemlich still gestanden, hatte kaum geatmet, war mir aber sicher, dass sie nun auf etwas lauschte. Und wenn nicht auf etwas, dann auf jemanden. Sie schwieg noch einige Sekunden, schien ihre Vermutung bestätigt zu finden und begann dann wieder zu reden. Diesmal aber klang ihre Stimme anders. » Allerdings«, sagte sie, » lebe ich nicht allein. Meine Tochter wohnt auch hier. Das tust du doch, nicht wahr, Liv?«
Ich ging durch ins Esszimmer. Sie saßen am Tisch, doch fehlte das übliche Brimborium, Teekanne, Kuchen, die Butterkekse, sorgsam auf unserem besten Geschirr arrangiert, die Schale mit den Zuckerstückchen – all das war fortgeräumt, und sie tranken Wein, wie ich überrascht bemerkte. Ich sah Mutter an; ihre Augen leuchteten, und sie wirkte entspannter, als ich sie seit Wochen gesehen hatte, doch ich wusste, dass sie nicht betrunken war. Mutter trank nur selten, auch wenn sie zum Weihnachtsessen stets eine Flasche Wein holte und mitten auf den Tisch stellte, allerdings wohl vor allem zur Zierde. Wir tranken jede nur ein Glas, und den Rest benutzte Mutter am nächsten Tag zum Kochen. » Gibt es einen besonderen Anlass?«, fragte ich.
Mutter lachte. » Trink ein Glas«, sagte sie. » Mr. Verne hat den Wein mitgebracht …«
Der amerikanische Journalist stand auf. Er war hochgewachsen, hatte kurzes, vorzeitig ergrautes Haar und ein langes, schmales Gesicht, das den jugendlichen Ton seiner Stimme Lügen strafte. » Nennen Sie mich Frank«, sagte er und streckte mir die Hand hin. Er lächelte. » Sie müssen Liv sein.« Ich schüttelte die Hand, und er setzte sich. » Ihre Mutter hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
Das war natürlich gelogen, und ich hatte keine Ahnung, warum er es notwendig fand, mir etwas vorzumachen. » Das wage ich zu bezweifeln«, erwiderte ich.
Mutter lachte. » Ich fürchte, Liv kennt mich ziemlich gut. Sie weiß, dass ich nur über meine Arbeit rede. Stimmt’s, Liv?«
Ich nahm ein Glas aus dem Schrank und schenkte mir Wein ein, setzte mich aber nicht hin. » Mehr oder weniger«, sagte ich und wandte mich an Frank Verne. Er war kein sonderlich gut aussehender Mann, aber auf eine Weise attraktiv, die ich nicht ganz begriff. Es hatte irgendwas mit seinen Augen zu tun; sie strahlten eine ruhige Verlässlichkeit aus, die nicht im Mindesten sanft oder naiv wirkte, und der seinem Gesicht zugrunde liegende Ausdruck verriet über jedes Lächeln und höfliche Interesse hinaus, dass er ein Mann war, dem das Leben nichts in den Weg stellte, mit dem er nicht auch fertig wurde. » Aber«, sagte ich, » um darüber zu reden, sind Sie ja auch hergekommen, nicht wahr, Mr. Verne?«
» Mehr oder weniger«, konterte er und lächelte, doch merkte ich, dass er mich musterte und herauszufinden versuchte, was ich vor ihm verbarg. Denn natürlich verbarg ich etwas. Es konnte gar nicht anders sein. Jeder Mensch verbirgt etwas; der einzige Unterschied besteht darin, wie lange man braucht, es herauszufinden. Darüber dachte ich damals nach. Ich sah ihm an, dass er sich dieser simplen Tatsache bewusst war, und mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass er mich sicher entweder rätselhaft oder enttäuschend finden würde, da ich nichts zu verbergen hatte. Zumindest nichts, was ihn interessierte. » Allerdings gebe ich mir auch große Mühe, mein Sujet kennenzulernen.« Er warf Mutter einen Blick zu. » Als Person, und nicht nur, weil eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt wird.«
Mutter lächelte. » Ach, da geben Sie sich keine Mühe«, sagte sie. » Bei mir dreht sich eigentlich alles nur um Arbeit.«
Frank Verne nickte. » Wir werden sehen.«
Frank Verne blieb bis zum späten Abend. Er saß immer noch mit Mutter im Esszimmer, redete und trank Wein, als ich mich schon längst entschuldigt hatte und nach oben gegangen war. Dafür gab es eigentlich keinen Grund; es schien ihnen durchaus zu gefallen, dass ich mich in ihrer Nähe aufhielt, ihrem Wortwechsel zuhörte und mich manchmal sogar einmischte,
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