In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
von dem, was seine Beweggründe für seine Bilder gewesen sein mögen, rede ich mir heute gern ein, dass seine geheime Fotosammlung für ihn nur rituelle Bedeutung besessen hat – auch wenn ich mir da nicht sicher sein kann. Aus Gründen, die ich nie ganz verstanden habe, wollen wir über die Toten nur Gutes denken; also will ich von nun an besser über Martin Crosbie denken, als ich es damals tat, denn allein seine Schwäche, sein Laster – was auch immer – hat die Huldra zu ihm geführt. Erst verhalf sie ihm zu ein wenig Glück, dann brachte sie ihn um. Vielleicht konnte seine Geschichte nur auf diese Weise enden, vielleicht war es das Beste, was er sich erhoffen durfte. Einen Augenblick des Glücks, der ihn vermutlich völlig überrascht hat, danach nichts mehr. Wie war es für ihn, jenes eine als Geschenk zu bekommen, von dem er geglaubt hatte, es nur durch Diebstahl erlangen zu können? Anfangs konnte er sein Glück sicher kaum fassen, aber ich denke, es ist ihm gelungen, daran zu glauben, bevor ihm das Geschenk wieder genommen wurde, bevor die Huldra ihre wahre Gestalt zeigte und ihm vom hellen Strand aus zuwinkte, während er willentlich ins Dunkel trat.
***
Mutter fuhr mich zum Flughafen. Ich hatte gehofft, ohne Aufsehen reisen und die ganze Geschichte geheim halten zu können, doch als wir morgens nach Tromsø fuhren, begegneten wir Kyrre Opdahl, der in entgegengesetzter Richtung unterwegs war und wie üblich auf einen kleinen Schwatz anhielt. Er mochte das – und Mutter wohl auch –, es gehörte zu dem, was er am liebsten tat: auf der Straße anhalten, das Fenster herunterkurbeln und mit jemandem reden, ob nun mit einem Autofahrer oder einem Spaziergänger. Ich schätze, es erinnerte ihn an die alten Zeiten, in denen es noch ruhiger zuging. An jenem Tag war er auf dem Heimweg von einem Geschäft in Straumsbukta, im Wagen die Vorräte für eine weitere Woche, doch hatte er auch bei einem Freund vorbeigesehen, der nur knapp einen Kilometer von Mrs. Sigfridsson entfernt wohnte, um eine Uhr mitzunehmen, die repariert werden sollte. Natürlich entdeckte er gleich den Koffer auf dem Rücksitz. » Wohin soll’s denn gehen?«, fragte er und musterte meine Mutter mit neugierigem Blick. Er wirkte enttäuscht, gar hintergangen, weil sie ihm nichts von einer bevorstehenden Reise gesagt hatte.
Mutter lachte und schüttelte den Kopf. » Ich fahre nirgendwohin«, sagte sie. » Aber Liv.«
» Aha.« Kyrre gestattete sich einen seiner typischen, leisen Japser, ehe er nickte und mich ansah, aber nichts weiter sagte.
» Sie fährt nach England«, fuhr Mutter fort, offenkundig immer noch leicht amüsiert, » um ihren Vater zu besuchen.«
Das schockierte mich. Ich hatte nicht angenommen, dass sie ihn erwähnen würde. Schließlich hatte sie jahrelang getan, als ob es ihn gar nicht gäbe. Soweit ich wusste, hatte sie ihn Kyrre gegenüber nie auch nur erwähnt, und Kyrre war viel zu höflich, um sich nach ihm zu erkundigen – und fragte sonst jemand danach, wer mein Vater war, wechselte sie das Thema oder kapselte sich ab. » Sie bleibt nicht lang«, setzte sie noch hinzu und wandte sich zu mir um. » Nur ein paar Tage.«
Kyrre sah mich gleichfalls an und gab sich Mühe, seine Überraschung zu verbergen. » England, wie?«, sagte er und kratzte sich am Kopf. » Tja, ist bestimmt ganz nett da, auch wenn ich nicht behaupten könnte, je dort gewesen zu sein.« Er lächelte so mitfühlend, als wäre eine Reise nach England mehr oder weniger das Gleiche wie ein Besuch beim Zahnarzt. » Hab selbst nicht viel fürs Reisen übrig«, fuhr er fort und wiegte nach einem Augenblick des Sinnierens bedenklich das Haupt. » Na ja, einmal war ich in Narvik.« Er blickte in den Rückspiegel, um sicherzugehen, dass die Straße hinter ihm frei war. Er fing an, diesen Moment zu genießen – seine junge Freundin fuhr ins Ausland, und er war hier, um ihr zu erklären, dass es keine große Sache war, die Insel zu verlassen –, weshalb er keine Störung wollte. Er kannte Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie, sollte er auf ihre Bemerkung über meinen Vater eingehen, das Gespräch höflich beenden und fortfahren würde.
Ich warf Mutter einen vielsagenden Blick zu, aber sie ignorierte mich. » Narvik?«, fragte sie.
Kyrre nickte. » Nur übers Wochenende.«
Mutter verzog keine Miene. » Tja, ist bestimmt ganz nett da.«
Kyrre kniff die Lippen zusammen und dachte einen Moment nach. » Mag sein«, sagte er dann, »kann aber nicht
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