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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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behaupten, dass es mir gefallen hätte.«
    Mutter lachte, sagte jedoch nichts weiter – und auch wenn wir noch ein, zwei Minuten blieben, war das Gespräch zu Ende. Mein Vater wurde mit keinem Wort mehr erwähnt, ebenso wenig die Tatsache, dass ich zum ersten Mal allein verreiste; allerdings warf Kyrre mir einen langen Blick zu, ehe er und Mutter Anstalten trafen, ihrer Wege zu fahren, und ich musste versprechen, ihm eine Postkarte zu schicken.

Das Haus des Fischers

A ls das Flugzeug abhob und sich in die Kurve legte, spähte ich aus dem Fenster, da ich hoffte, Mutter zum Wagen zurückgehen zu sehen. Aber ich konnte nur das vom Land unter mir aufschimmernde grüne Licht und dann, etwas seitlich, einen gelben Windsack erkennen, aufgebläht vom Atem des alten Sámi -W indgottes Bieggaålmaj – nichts Besonderes, ich weiß, dennoch ein kleiner, mit Licht, Ozon und Sommerwind sich füllender Bestandteil der sich darbietenden Szenerie. Einen Augenblick lang schien es, als bliebe die Zeit stehen; dann drehte das Flugzeug nach Süden ab, und unter mir schrumpfte die Welt: Häuser, Supermärkte und Straßencafés, über die Erde verteilt in kartografierter Unbeständigkeit, über die niemand nachdachte, obwohl sie dort unten jeden Tag gelebt wurde – und ich glaube, manch einer ist froh, dass nichts von dem, was sie tun oder schaffen, je wirklich ein Ende findet oder mit Gewissheit ihnen gehört. Nichts von ihrem Tun ist von Dauer, nichts existierte auf immer. Leute wie Kyrre Opdahl und vielleicht, auf seine Weise, auch wie Ryvold entscheiden sich dafür, in diesem Land zu leben, weil sie wissen, dass Geschichten nur hier Bestand haben. Die Geschichten und das Land, das sie hervorbringt. So verschieden sie auch zu sein meinen, so hätten diese beiden Einzelgänger sicher nicht nur darin übereingestimmt, dass es eigentlich bloß Geschichten gibt und alles andere Illusion ist; sie hätten auch bestätigt, was Ryvold an einem Samstagmorgen der versammelten Runde erzählte, dass nämlich die individuellen Geschichten, die separaten Leben, die wir zu führen glauben, und die Darstellungen, die wir davon geben, kontinuierlich in eine größere Erzählung einfließen, die niemand Bestimmtem gehört und nicht nur alles einschließt, was geschieht, sondern auch alles, was hätte sein können.
    Das Flugzeug kreiste kurz über der Insel, um dann nach Süden abzudrehen, und im selben Moment verschwand die Welt, wie ich sie kannte. Draußen blies Bieggaålmaj über die Finnmarksvidda heran, ein kalter Wind, der zuvor über die Mongolei gefegt war und den Rauch aus den Jurten der Pferdehirten, das Blau der Steppe gestreift hatte, denn dieser Wind, dieser Geist, besaß ein Gedächtnis, das Ewigkeiten umspannte, über alle Örtlichkeiten, Äonen und Jahreszeiten hinaus, und sich an andere Orte, andere Jahreszeiten erinnerte, an andere Menschen, die in ihren Siedlungen schliefen und träumten, überall entlang des Wegs von hier bis Kamtschatka. Für ihn klangen unsere vielen Geschichten gleich, selbst die Geschichte, in der ich vorkam und zu einem Mann reiste, den ich nicht nur nie gesehen, sondern auch nie für ein Wesen aus Fleisch und Blut gehalten hatte. Nur konnte ich nicht sagen, ob ich froh war, endlich die Wahrheit zu erfahren, oder ob es mich ärgerte, dass er tatsächlich existierte. Mehrere Minuten lang schüttelte Bieggaålmaj das Flugzeug, als wollte er es vom Himmel pflücken und ins Meer werfen, dann aber, nachdem wir einer Reihe ferner Inseln entlang der Westküste gefolgt waren, drehte die Maschine landeinwärts, um die Berge zu überqueren – und im weißen Schimmer der schneebedeckten Gipfel vergaß ich Arild Frederiksen, vergaß alles bis auf dieses klare, überirdische Licht. Als ich aufwachte, setzte das Flugzeug in einem steten grauen Regen zur Landung an, und eine Stimme über Lautsprecher bat die Passagiere, zur eigenen Sicherheit und der aller übrigen Mitreisenden sitzen zu bleiben, bis die Anschnallzeichen erloschen waren.
    In Oslo musste ich umsteigen. Die nächste Maschine hatte Verspätung, aber das störte mich nicht. Ich war früher schon einmal in London gewesen, konnte mich aber kaum daran erinnern. Damals war es heiß gewesen, und mich hatten die Menschenmengen auf den Straßen abgeschreckt, die Art, wie sie aneinander vorbeirempelten mit dieser abwesenden Miene im Gesicht, als versuchten sie verzweifelt sich einzureden, dass sie allein seien. Mutter hatte mich in die National Gallery und die Tate

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