In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
und für einen Moment machte mich die Vorstellung krank, jemand anderes würde an meiner statt in unserem Haus umhergehen, würde meine Dinge benutzen, meine Bücher aus den Regalen nehmen, hören, wie das Telefon klingelte, aber nicht an den Apparat gehen. Dieses Gefühl dauerte nicht länger als etwa eine Minute, aber als es verflog, fühlte ich mich so erschöpft, dass ich mich aufs Bett legte, ohne mich auch nur auszuziehen. Es war noch früh am Abend, trotzdem fiel ich gleich in einen unruhigen Schlaf, verfolgt von einem Traum, der, da bin ich mir sicher, in den nächsten Stunden noch mehrere Male wiederkehrte, ein Traum, in dem die Jungen der Sigfridssons noch lebten, aber irgendwo gefangen waren – in einer unterirdischen Kammer, vielleicht auch unter einem umgekehrten Boot –, und ich konnte sie hören, wie sie riefen, jemand möge kommen und sie retten. Im Traum war ich dieser Jemand, nur wusste ich nicht, was ich tun sollte, während ich hilflos hörte, wie die Schreie lauter wurden und auch zahlreicher, bis sie schließlich zu einem Chor von Stimmen anschwollen, der um Rettung flehte, während das Wasser sie an sich zog oder die Dunkelheit, und ich nichts tun konnte, um den Jungen zu helfen.
***
Früh am nächsten Morgen wachte ich auf und begann, mich auf den Besuch vorzubereiten. Ich nahm den Brief, den Kate Thompson mir geschickt hatte, den mit dem Namen des Krankenhauses und ihrer Adresse, steckte ihn in die Tasche, sah nach, ob ich noch genug Geld im Portemonnaie hatte, und ging nach unten. Obwohl ich früh eingeschlafen war, hatte ich kaum Ruhe gefunden – mir kam es vor, als hätten die Träume die ganze Nacht gedauert. Ich war eingeschlafen, dann wieder aufgewacht oder halb aufgewacht, in einem dunklen Zimmer, und aus den Zimmern unter mir seltsame Laute zu vernehmen gewesen. Einmal hatte ich einen Jungen zu rufen hören gemeint – ich dachte, der Ruf käme aus dem Park auf der anderen Straßenseite –, und da der Schrei so nah klang, war ich aufgestanden, um nachzuschauen. Lange war ich am Fenster stehen geblieben und hatte über den Garten zum kleinen, leeren Spielplatz im orangeroten Laternenlicht geblickt, konnte aber niemanden entdecken. Nun war ich müde, und der Ärger darüber, in ein Krankenhaus fahren und einen kranken Mann besuchen zu müssen, den ich noch nie gesehen hatte, kehrte wieder. Ich wollte nicht ins Krankenhaus. Ich sah ein Bild von einem der berühmten Krankenzimmerbilder Munchs vor mir: die hagere Gestalt auf dem Bett unter einem Haufen Decken, die näher rückenden Schatten, die Welt draußen – das Sonnenlicht, die Blumen – unmöglich weit fort, und fast konnte ich die abgestandene Luft und die ausgebleichten, schweißgetränkten Laken riechen. Eine Weile dachte ich daran, meine Sachen zu packen und gleich wieder nach Hause zu fahren – aber dann fiel mir Mutter ein, und ich zog den Mantel an und ging nach unten.
Die junge Frau am Empfang sah genauso aus wie jene, die ich am Abend zuvor kennengelernt hatte, nur stand auf ihrem Namensschild Renate , und sie hatte einen anderen Akzent, irgendwas Osteuropäisches. Ich bat sie, mir ein Taxi zu rufen; sie griff nach dem Telefon. » Wo soll es hingehen?«
» Ins Krankenhaus.«
» Welches?
Ich holte Kates Brief aus meiner Tasche und las den Namen vor. Die junge Frau nickte und wiederholte meine Worte in den Apparat. Es folgte ein kurzes Schweigen, dann hängte sie ein, ohne noch etwas zu sagen, und machte sich einen Vermerk in ihr spiralgebundenes Notizbuch. Sie sagte immer noch nichts, schaute nicht einmal auf, und es war, als hätte sie meine Anwesenheit vergessen. » Wie lange wird es dauern?«, fragte ich.
Sie hob den Blick. Einen Moment lang kam es mir vor, als hätte sie mich nicht verstanden, und ich wollte meine Frage bereits wiederholen, als sie schließlich bedächtig antwortete: » Das Taxi wird in fünf Minuten hier sein.«
Ich dankte ihr und setzte mich gleich neben einem bronzenen Pferd in einen der hinteren Winkel der Lobby.
Zwanzig Minuten später stand ich wieder vor einem Schalter und fragte nach dem Patienten, den ich besuchen wollte – einen Patienten, dessen Namen die Frau in der Aufnahme offenbar nicht in ihren Unterlagen finden konnte. » Wie schreibt er sich?«, fragte sie, den Blick ins Hauptbuch gerichtet.
Ich buchstabierte den Namen. » Er ist Norweger«, sagte ich, nur ging mir im selben Moment auf, dass ich keine Ahnung hatte, wie lange Arild Frederiksen bereits in England lebte
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