In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
zitternden Händen legte sie ihre vier Ampullen nebeneinander, ihr Nacken war feucht von kaltem Schweiß. Es war spät, und sie wäre längst dran gewesen.
Sie dachte an Rosenwänglein und fragte sich, wie lange er zurechtkommen würde. Seine traurige Geschichte hatte ihr klargemacht, dass sie in der ihr verbleibenden Zeit keinen Arzt finden würde. Wie wollte Dempster ihr helfen? Seine Versprechungen waren vage, aber sie hatte ihm glauben wollen, deshalb hatte sie sich auf den Deal mit ihm eingelassen. Vielleicht konnte er ihr etwas guten Stoff besorgen, der vom Rauschgiftdezernat konfisziert worden war. Mindestens zwanzig Prozent davon kamen wieder auf den Markt. Das Problem war nur, dass Dempster keinen korrupten Eindruck machte, er wirkte nur unorthodox.
Sie unterdrückte die aufsteigende Panik, die sie zu überwältigen drohte, indem sie eine Ampulle nahm und sich den Inhalt injizierte.
Bald stellte sich Ruhe ein.
Sie wog ihre Optionen ab. Sie konnte versuchen, Privatpatientin zu werden. Als Selbstzahlerin fand sie vielleicht einen Arzt, der ihr starke Beruhigungsmittel verschrieb. Sie musste ihren Körper auf den Entzugsschock vorbereiten, falls es dazu kam. Aber wenn sie ihren Job verlor, woher sollte dann das Geld kommen, um den Arzt und die Drogen zu bezahlen?
Die Alternative dazu war noch mieser. Ein Arzt vom Öffentlichen Gesundheitssystem würde ihre Nummer durch das System laufen lassen, und schon sähe er ihren Status als registrierte Süchtige. Dann würde man sie mit einem Entzugsprogramm abspeisen oder behaupten, man könne keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Junkies waren teuer und außerdem eine verdammte Plage für jede Praxis. Das Urteil dieser Ärzte und ihre Verschreibungen waren moralisch, aber nicht medizinisch begründet. Heroin war schlecht, Benzodiazepine waren gut.
Doch momentan hatte sie keine Zeit, sich Sorgen zu machen. Jede Notwendigkeit, sich Nestors Mailbox anzuhören, war verschwunden. Sie war physiologisch unfähig, sich zu ängstigen, während sie mit absoluter Klarheit ihre Situation analysierte. Sie war ruhig und gesammelt, sicher in einer Umarmung, die sie niemals enttäuschen würde.
Die noch verbliebenen drei Ampullen glänzten in dem sanften gelben Licht. Drei Tage bis zum Abstieg in die Hölle. Ihre Mutter hätte dazu gesagt, dass Jesus genauso viel Zeit gebraucht hatte, um von den Toten aufzuerstehen. Ihr Vater hätte ihr zugezwinkert und gesagt, sie sollte das nicht zu wörtlich nehmen. Bindungen. Sie nickte und lächelte.
Irgendwo weit weg schrie eine Frau. Aus der Dunkelheit kam ein Gesicht angeflogen, der Kopf baumelte, weil der halbe Hals fehlte. Berlin schreckte hoch. Die Schreie waren ihre eigenen.
FÜNFTER TAG
37
Berlins Stoffwechsel geriet durch die Unterbrechung der Routine völlig aus der Bahn. Sie schleppte sich aus dem Bett und taumelte zum Computer. Obenauf lag diese alte Doyle-Akte. Die Akte hatte ihr einen Hinweis gegeben, aber eins nach dem andern. Sie schob sie beiseite. Das hätte sie gern auch mit Dempster getan.
Thompson hatte gesagt, Nestors letzter Anruf wäre an ihr Handy gegangen. Dann müsste er auf der Mailbox sein, die sie heruntergeladen hatte, nachdem ihr Handy von den Null-Bock-Typen am Parktor zertrampelt worden war.
Sie klickte sich durch die Liste der eingegangenen Anrufe. Eine ganze Reihe davon hatte sie verpasst, bei manchen war die Rufnummer unterdrückt. Nur eine SMS war vorgestern eingegangen. Sie tippte auf »hören«.
Die Beschimpfung am Anfang war eindeutig, obwohl Nestors Botschaft etwas verschwommen und atemlos war.
»Berlin, du denkst, du weißt alles, du arrogantes Miststück, aber von Juliet Bravo hattest du keine Ahnung. Als ich gesagt habe, keine weitere Aktion, da hab ich keine weitere beschissene Aktion gemeint! Jetzt sieh dir an, was du angerichtet hast!«
Es war ein Schock, solche Ausdrücke vom sonst so kontrollierten Nestor zu hören.
Es summte, vielleicht ein eingehender Anruf, aber dann öffneten sich Aufzugtüren.
»Wie schön, dass Sie kommen konnten«, begrüßte Nestor seinen Besucher in seiner üblichen, vornehmen Redeweise. So direkt nach seinem giftigen Anschiss überlief Berlin dabei ein Schaudern. Als triebe ihn plötzlich eine ganz vehemente Boshaftigkeit an.
Der Besucher murmelte irgendetwas, das Berlin nicht verstand. Dann gab es einen Aufprall, als hätte Nestor das Handy fallen gelassen. Danach war alles undeutlich.
Berlin begriff, dass Nestor ihr nicht nur seinen letzten Anruf
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