In jenem Sommer in Spanien
sogar Gabriel vergaß seine Vorbehalte im Umgang mit dem Jungen. Wie selbstverständlich nahm er den Kleinen auf den Schoß, strich ihm hin und wieder über den Kopf und erklärte ihm, was sie unterwegs sahen.
Alex war gerührt, als sie bemerkte, wie zwischen den beiden allmählich das Eis brach. Nachdem Luke geboren war, hatte sie sich manchmal vorgestellt, wie es hätte sein können, wäre Lucio beziehungsweise Gabriel bei ihr geblieben. In ihrer Fantasie hatte er sich dann in etwa so mit ihrem Jungen verhalten, wie er es jetzt tat, wobei Gabriel den Kleinen mit seinen großen Händen sicher hielt – auch in Ermangelung eines Kindersitzes.
Als Alex schließlich wieder aus dem Fenster sah, stellte sie erstaunt fest, dass sie sich nicht mehr auf der Stadtautobahn befanden, sondern eine kleinere Straße entlangfuhren, die durch in strahlendes Sonnenlicht getauchte Obstplantagen führte. Zum ersten Mal hatte Alex den Eindruck, dass es vielleicht doch richtig gewesen sein könnte, mit Luke das zu dieser Jahreszeit triste London und die gewohnte Umgebung zu verlassen. Verreisen zu können, war wohl einer der Vorteile, den man als Gabriel Cruz’ Sohn genoss.
„Wir sind da!“
Alex blinzelte erstaunt, als am Ende einer privaten Allee ein großes Landhaus ins Blickfeld kam. Ein riesiges Rondell empfing die Besucher, das im Zentrum ausgesucht gestaltet worden war, während es an seinen Rändern in perfekt getrimmte Rasenflächen überging. Das Haus selbst war viel zu groß für nur zwei Personen.
„Leben deine Eltern allein hier?“
„Es gibt Angestellte.“
„Natürlich …“
Gabriel sah Alex’ ungläubigen Blick und fühlte sich plötzlich wieder wie ein Teenager, dem es gelungen war, ein Mädchen zu beeindrucken.
„Jetzt verstehe ich, warum du dachtest, mein Haus sei zu klein für Luke“, sagte Alex, während der Chauffeur ums Auto ging, um ihnen beim Aussteigen behilflich zu sein.
„Wohnen wir hier?“, fragte der Junge Gabriel begeistert.
„Für eine Weile“, antwortete er, „aber du kannst immer herkommen, um deine Großeltern zu besuchen.“
„Oma und Opa wohnen in Irland.“
„Und deine anderen Großeltern wohnen hier.“
Luke akzeptierte diese Tatsache mit einem einfachen Nicken.
Das bekam Alex nur am Rande mit, da in diesem Moment die doppelflügelige Eingangstür geöffnet wurde und ein strahlendes Paar auf der Schwelle erschien. Mit einem Mal hatte Alex das Gefühl, völlig falsch angezogen zu sein. Dabei hatte sie sich absichtlich ganz lässig gekleidet, um von vornherein klarzustellen, dass sie sich von niemandem Vorschriften machen ließ. Jetzt bedauerte sie es.
Der Mann war groß, und als Alex näher kam, entdecke sie Gabriels klassisch strenge Züge auch in seinem Gesicht. Die Frau war klein, rundlich und erstaunlich faltenfrei.
„Ich habe dir doch gesagt, dass sie keine Ungeheuer sind!“, murmelte Gabriel und nahm Alex’ Hand, die sie ihm eigentlich gleich wieder hätte entziehen müssen. Doch jetzt war sie einfach nur froh über diesen moralischen Beistand.
Bei der Begrüßung sah man, dass Gabriel seine Eltern gern hatte. Schon wieder eine Überraschung!
„Antonio Cruz, es freut mich Sie kennenzulernen.“ Lächelnd hielt Gabriels Vater Alex die Hand hin, genauso wie seine Frau Maria, die sich ebenfalls auf Englisch vorstellte, aber mit einem deutlichen spanischen Akzent. Dann galt ihre Aufmerksamkeit nur noch Luke, dem es offensichtlich gefiel, im Mittelpunkt zu stehen. Er ließ sich sogar von seinem neuen Großvater hochheben und seiner Großmutter zeigen, als sei er ein lang verlorener Schatz.
Das war durchaus nicht die kühle, vorwurfsvolle Begrüßung, die Alex erwartet hatte. Gleich darauf wurden sie ins Haus gebeten, und als Alex begann, sich umständlich dafür zu entschuldigen, dass sie ihnen ihren Enkel nicht früher vorgestellt hatte, winkten Gabriels Eltern ab und erklärten, wie froh sie seien, dass sie Luke jetzt kennenlernen durften. Dann überreichten sie dem Jungen ihr Willkommensgeschenk: ein Fahrrad mit Stützrädern.
Während Gabriel sich mit seinem Vater unterhielt, nahm seine Mutter Alex beiseite. „Wir können Luke draußen im Garten beim Fahren zusehen.“ Sie hatte offensichtlich nichts dagegen, dass er bereits versuchte, auf dem polierten Parkett die ersten Runden zu drehen. „Sie müssen sehr stolz auf ihn sein“, meinte sie beim Hinausgehen. „Gabriel hat mir alles erklärt. Mein Mann und ich sind so froh, dass sich jetzt alles zum
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