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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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wurde wütend. Wütend! Ich dachte natürlich, er habe wieder eine seiner Aktionen veranstaltet, ein Tier umgebracht. Ich ging nach oben auf sein Zimmer. Und ich weiß nicht, was mich dazu veranlaßt hat …«
    Sie schien nach Worten zu suchen, als habe sie das lange geübt, die richtigen jedoch noch immer nicht gefunden.
    »Es war einfach nur ein Gefühl. Ich ging die Treppe hoch. Ich mußte an den Abend denken, an dem die kleine Hedvig verschwunden war. Das heißt, ich dachte an den Tag danach. Gegen Morgen einmal, da … Wir wußten in diesem Moment ja noch nichts von Hedvig. Das Verschwinden der Kleinen wurde erst einen oder zwei Tage später bekanntgegeben.«
    Sie preßte die Finger gegen die Schläfen, als leide sie an Kopfschmerzen.
    »Ich war an diesem Morgen gegen fünf Uhr aufgewacht. Das passiert mir oft. Das war immer schon so. Aber an diesem Morgen, der sich also später als der Tag nach dem Mord an Hedvig erweisen sollte, glaubte ich, etwas gehört zu haben. Natürlich hatte ich Angst, Asbjørn durchlebte damals seine schwerste manische Periode und verfiel auf Dinge, die alles weit übertrafen, was ich bei einem Jungen seines Alters jemals für möglich gehalten hätte. Ich hörte Schritte. Mein erster Impuls war, aufzustehen und herauszufinden, was passiert war. Aber ich brachte es einfach nicht über mich. Ich war nur noch erschöpft. Etwas hielt mich zurück. Ich weiß nicht, was. Später, beim Frühstück, war Asbjørn sehr schweigsam. So war er sonst nie. Der Junge redete ununterbrochen. Sogar beim Schreiben redete er. Redete und gestikulierte. Dauernd. Er hatte so viele Ansichten. Er hatte wohl viel zu viele Ansichten, er …«
    Wieder huschte ein verlegenes Lächeln über ihr Gesicht.
    »Aber egal«, sagte sie dann. »Er war jedenfalls still. Geir dagegen war munter und fröhlich. Ich …«
    Ihre Lider schlossen sich halb, und sie hielt den Atem an. Sie schien sich alles wieder vor Augen rufen zu wollen, diesen Morgen, vor langer Zeit, 1956, an einem Frühstückstisch in einer Kleinstadt in der Nähe von Oslo.
    »Ich wußte, daß irgend etwas passiert sein mußte«, sagte Unni Kongsbakken langsam. »Geir war sonst der Stille. Morgens sagte er nie ein Wort. Saß einfach nur hilflos da. Er stand immer in Asbjørns Schatten. Immer. Auch bei seinem Vater. Obwohl Asbjørn ein ungewöhnlich streitsüchtiger Junge war und nicht einmal den Nachnamen seines Vaters tragen wollte, schien Astor … Er bewunderte ihn, könnte man wohl sagen. Er fand sich in dem Jungen wieder, glaube ich. Seine eigene Kraft. Seine Zähigkeit. Sein Selbstbewußtsein. So war es immer schon gewesen. Geir war gewissermaßen … überflüssig, immer. An diesem Morgen aber war er munter und gesprächig, und deshalb wußte ich, daß etwas nicht stimmte. Natürlich dachte ich nicht an Hedvig. Wir erfuhren ja erst später, was mit der Kleinen geschehen war, wie gesagt. Aber irgend etwas am Verhalten der Jungen machte mir so große angst, daß ich nicht zu fragen wagte. Und als ich später, viele Wochen später, am Abend, ehe Astor sein Plädoyer gegen Aksel Seier halten und ihn des Mordes an Hedvig Gåsøy für schuldig befinden sollte … als ich mit Asbjørns blutigem Pullover in den Armen die Treppe hochlief, außer mir vor Zorn, und als ich plötzlich …«
    Wieder faltete sie die Hände. Ihre Haare fielen schwer und grau über ihre eine Schulter. Aus dem roten Auge löste sich eine Träne. Inger Johanne wußte nicht so recht, ob die alte Dame weinte oder an einer Entzündung litt.
    »Da ging es mir auf, wie eine Art Vision«, sagte Unni Kongsbakken mühsam. »Ich ging in Asbjørns Zimmer. Er schrieb, wie immer. Als ich ihm den Pullover hinwarf, zuckte er mit den Schultern und schrieb weiter. Ohne ein Wort zu sagen. Hedvig, sagte ich. Ist das Hedvigs Blut? Er zuckte noch einmal mit den Schultern und schrieb weiter, in wütendem Tempo. Ich dachte, ich müßte sterben. Auf der Stelle. Mir wurde schwindlig, ich mußte mich wirklich an die Wand lehnen, um nicht zu stürzen. Dieser Junge hatte mir schon endlos viele schlaflose Nächte bereitet. Er hatte mir immer Sorgen gemacht. Aber ich hätte ihm nie, nie …«
    Ihre Hand knallte auf die weiße Tischdecke, Inger Johanne fuhr zusammen. Das Geschirr klirrte, und der Kellner kam herbeigestürzt.
    »… so etwas zugetraut«, sagte Unni Kongsbakken.
    »Nein, danke«, sagte Inger Johanne zu dem Kellner, der sich zögernd zurückzog. »Was … was hat er dann

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