Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
Vom Netzwerk:
Bündel war dick, die Geldscheine abgegriffen.
    »Wo wohnen Sie?«
    »Im Augustus Snow.«
    »Ich melde mich.«
    Er schob seinen Stuhl zurück und erhob sich schwerfällig. Er hatte nur wenig Ähnlichkeit mit dem Mann, der früher an diesem Tag eine gebrechliche Leiter hochgeklettert war, um einen Wetterhahn durch eine Sau zu ersetzen.
    »Darf ich nur noch eine Frage stellen«, bat Inger Johanne rasch. »Nur eine Frage, bevor Sie gehen?«
    Er sagte nichts, blieb aber stehen.
    »Ist Ihnen bei Ihrer Entlassung etwas gesagt worden? Ich meine, haben Sie eine Erklärung dafür erhalten, was passiert war? Wurde Ihnen gesagt, daß Sie begnadigt wurden oder …«
    »Nichts. Sie haben nichts gesagt. Ich bekam einen Koffer für meine Habseligkeiten. Einen Briefumschlag mit hundert Kronen. Die Adresse einer Unterkunft. Aber gesagt haben sie nichts. Except, da war ein Mann, einer … er trug keine Uniform oder so. Er hat gesagt, ich solle die Klappe halten und zufrieden sein. Halt die Klappe und sei zufrieden. An den Satz erinnere ich mich sehr gut. Aber Erklärung? Nope.«
    Er bleckte die Zähne. Die Grimasse war abstoßend und ließ sie die Augen niederschlagen. Aksel Seier ging auf den Ausgang zu und verschwand, ohne auf sie zu warten, ohne ein Wiedersehen zu vereinbaren. Sie drehte das Wasserglas in ihren Händen. Sie versuchte, sich an etwas zu erinnern. Aber es gelang ihr nicht.
    Etwas in Aksel Seiers Haus hatte dort nicht hingehört. Irgend etwas, worauf sie reagiert hatte, hinterher, als es zu spät war, etwas, das mit der bizarren Einrichtung verschmolzen war, sich aber trotzdem davon abhob. Sie schloß die Augen und versuchte, Aksel Seiers Wohnzimmer vor sich zu sehen. Die Galionsfigur. Die Schlachtszenerie. Die triste Puppe in der samischen Tracht. Den Ritter an der Wand. Eine Wanduhr, deren Pendel aus Hufeisen bestanden. Das Bücherregal mit den vier Büchern, sie konnte sich an keinen Titel erinnern. Eine alte Kaffeedose mit Kleingeld gleich neben der Tür. Den Fernseher mit der Tischantenne. Eine Stehlampe, die aussah wie ein Hai; sie riß auf dem Boden das Maul auf und hatte die Glühbirne im Schwanz sitzen. Einen lebensechten Labrador aus schwarzbemaltem Holz. Absurde verlockende Gegenstände, die auf unerklärliche Weise zusammengehörten.
    Und etwas anderes. Etwas, auf das sie reagiert hatte, ohne es zu registrieren, bis es zu spät gewesen war.
    Aksel Seier ging mit schnellen Schritten. Er dachte zurück an einen Frühlingstag des Jahres 1966, als er Oslo zum letzten Mal gesehen hatte. Der Nebel hing über dem Fjord. Er stand an der Reling der M/S Sandefjord, die mit Kunstdünger in die USA fuhr. Der Kapitän hatte kurz genickt, als Aksel ihm ganz offen und ohne Umschweife die Lage geschildert hatte. Daß er lange im Gefängnis gewesen war und hier in Norwegen wahrscheinlich kein Bein mehr auf die Erde bekommen konnte. Der Kapitän konnte ganz beruhigt sein, Aksel Seier besaß die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er knallte den Paß auf den Tisch, und der Paß war einwandfrei echt. Aksel Seier wollte sich während der Überfahrt über den Atlantik nur nützlich machen. Wenn er durfte.
    Er sollte in der Kombüse aushelfen. Noch ehe sie den Leuchtturm von Dyna erreichten, hatte er vier Kilo Kartoffeln geschält. Dann lief er für einen Moment hinaus. Er wußte, daß er dieses Land für immer verließ. Er weinte, und er wußte nicht, warum.
    Danach hatte er keine Träne mehr vergossen, bis jetzt.
    Er lief nach Hause. Das Tor ärgerte ihn mit seinem heute ganz besonders widerborstigen Riegel. Der Briefträger hielt an, steckte den Kopf aus dem Wagen, zeigte auf die Sau und lachte. Aksel Seier sprang über den niedrigen Zaun und ging ins Haus. Dort schloß er sorgfältig die Tür hinter sich ab und kroch ins Bett. Die Katze jammerte vor dem Fenster aufs kläglichste, aber darauf wollte er nicht hören.

24
    »Und damit vergeudet ihr eure Zeit?«
    Yngvar Stubø rieb sich das Gesicht. Seine Handfläche kratzte über die Bartstoppeln. Es war nach zwei Uhr in der Nacht zum Mittwoch, dem 24.   Mai. Vor der in Sandvika gelegenen Hauptwache für den Bezirk Asker und Bærum drängten sich fünfundzwanzig Pressevertreter und fast ebenso viele Fotografen. Sie wurden von zwei Polizeianwärtern zurückgehalten, die in der letzten Viertelstunde zu ihren Gummiknüppeln gegriffen hatten. Langsam gingen sie vor dem Eingang hin und her und schlugen sich düster mit den Knüppeln gegen die Handflächen, wie Polizisten in einem

Weitere Kostenlose Bücher