In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
Alice.
Sie zog den Umschlag zu sich heran. Der Praktikant verließ den Raum. Reacher nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Alice, deren Hand auf der Sendung lag, warf ihm einen fragenden Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. Das Päckchen war viel dünner, als er erwartet hatte.
Sie öffnete die Verschlussklappe und drückte den Umschlag von zwei Seiten zusammen, sodass er sich wie ein gähnender Schlund öffnete. In vier grünen, mit Carmens Namen und ihrer Sozialversicherungsnummer versehenen Plastikheftern befand sich jeweils ein Bericht. Auf jedem Hefter war ein Datum angegeben. Das älteste lag über sechs Jahre zurück. Reacher rutschte mit seinem Stuhl hinter den Schreibtisch, um neben Alice sitzen zu können. Sie ordneten die vier Berichte so, dass der älteste oben auf dem Stapel lag. Sie klappte den ersten Hefter auf und schob ihn etwas nach links, bis er genau zwischen ihnen lag.
»Okay«, sagte sie. »Dann wollen wir mal.«
Die erste Akte betraf Ellies Geburt. Der gesamte Ablauf war genauestens festgehalten. Der Bericht enthielt viele gynäkologische Angaben über die Erweiterung des Muttermunds und die einsetzenden Geburtswehen. Die Herztätigkeit des Fetus war mit einem Ultraschallgerät überwacht worden. Um 4.13 Uhr morgens hatte die Gebärende eine Periduralanästhesie erhalten, deren Wirkung nach etwa zehn Minuten eingetreten war. Um sechs Uhr früh hatte es im Kreißsaal einen Schichtwechsel gegeben. Auch nach Verabreichung von Wehenmitteln waren die Wehen bis mittags weitergegangen. Um 12.55 Uhr war zur Geburtserleichterung ein Dammschnitt vorgenommen worden. Ellie war um 13.20 Uhr zur Welt gekommen. Keine Komplikationen. Normale Nachgeburt mit Ausstoßung der Plazenta. Der Dammschnitt war sofort wieder genäht und das Baby als in jeder Beziehung lebensfähig beurteilt worden.
Prellungen im Gesicht, eine aufgeplatzte Lippe oder wackelnde Zähne wurden nicht erwähnt.
Der zweite Bericht betraf einen doppelten Rippenbruch. Er trug ein Datum im Frühjahr – ziemlich genau fünfzehn Monate nach Ellies Geburt. Die beiliegende Röntgenaufnahme zeigte Carmens Oberkörper von links. Die Rippen zeichneten sich in hellem Weiß ab. Zwei von ihnen wiesen hauchdünne graue Risse auf. Ihre linke Brust war als dunkler Umriss erkennbar. Der behandelnde Arzt hatte festgehalten, die Patientin habe angegeben, sie sei von ihrem Pferd abgeworfen worden und auf die obere Stange der Umzäunung einer Pferdekoppel gefallen. Wie immer bei Rippenbrüchen hatte der Arzt ihr nur den Oberkörper straff bandagiert und Bettruhe empfohlen.
»Was halten Sie davon?«, fragte Alice.
»Könnte was sein«, antwortete Reacher.
Der dritte Untersuchungsbericht trug ein Datum im Herbst – ein halbes Jahr später. Er betraf starke Prellungen
an Carmens rechtem Bein unterhalb des Knies. Derselbe Arzt hatte festgehalten, die Patientin habe angegeben, sie sei bei einem Sprungversuch vom Pferd gefallen und mit dem Schienbein eine Holzstange des Hindernisses entlanggeschrammt. Die schmerzhafte Prellung war genau vermessen worden: ein schräg stehendes Oval, dessen Achsen etwa zehn und dreizehn Zentimeter lang waren. Eine Röntgenaufnahme hatte gezeigt, dass der Knochen nicht gebrochen war. Der Arzt hatte Carmen ein Schmerzmittel verschrieben und ihr den ersten Tagesbedarf aus der Krankenhausapotheke mitgegeben.
Der vierte Bericht war zweieinhalb Jahre später verfasst worden – etwa ein Dreivierteljahr vor Sloops Verurteilung. Diesmal handelte es sich um einen glatten Schlüsselbeinbruch rechts. Alle in diesem Bericht aufgeführten Namen waren neu, als habe das Personal in der Notaufnahme vollständig gewechselt. Der behandelnde Arzt äußerte sich nicht zu Carmens Darstellung, sie sei auf der Mesa vom Pferd und auf einen Felsen gestürzt. Aber er beschrieb ihre Verletzung sehr gründlich. Die beiliegende Röntgenaufnahme zeigte Carmens Hals und Schulter. Das in der Mitte gebrochene Schlüsselbein war deutlich zu erkennen.
Alice richtete die vier Hefter mit dem Gesicht nach unten auf dem Schreibtisch aus.
»Na?«, fragte sie.
Reacher schüttelte nur den Kopf.
»Na?«, wiederholte sie.
»Vielleicht war sie mehrmals in einem anderen Krankenhaus«, sagte er.
»Nein, das hätten wir erfahren. Ich hab Ihnen ja erzählt, dass unser Auskunftsersuchen an alle Krankenhäuser gegangen ist. Reine Routinesache.«
»Vielleicht hat er sie in ein Krankenhaus außerhalb von Texas gebracht.«
»Auch das haben wir überprüft«, sagte sie.
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