In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
schrillen.
Die Sirene kam näher. Ziemlich weit hinten im Fach fand er, was er suchte: einen fünf Zentimeter hohen Papierstapel in einer Hängemappe aus festem Karton. Er zog sie heraus und klemmte sie sich unter den Arm. Ließ nur dieses Fach offen und schloss die anderen mit raschen Fußtritten. Rannte durchs Vorzimmer und die Treppe hinunter. Überzeugte sich mit einem raschen Blick auf die Straße davon, dass die Luft rein war, hetzte zur Einfahrt hinüber und sprang in den Beetle.
»Los!«, sagte er.
Er war etwas außer Atem, und das überraschte ihn.
»Wohin?«, fragte Alice.
»Süden«, sagte er. »Red House Ranch.«
»Warum? Was ist dort?«
»Alles«, antwortete er.
Sie fuhr mit quietschenden Reifen an. Nach fünfzig Metern sah Reacher in einiger Entfernung hinter ihnen rote Lichter blinken. Das Pecos Police Department, das nur eine Minute zu spät beim Gerichtsgebäude eintraf. Er lächelte in der Dunkelheit und drehte sich gerade noch rechtzeitig wieder nach vorn, um für den Bruchteil einer Sekunde eine große Limousine zu erkennen, die zweihundert Meter vor ihnen nach links in die Straße einbog, die zu Alices Haus führte. Sie sauste durch den gelblichen Lichtkegel einer Straßenlampe und verschwand. Mit einfachen Stahlfelgen und vier Funkantennen am Heck sah der Wagen aus wie ein Crown Vic in Polizeiausführung. Als sie die Einmündung passierten, drehte Reacher den Kopf zur Seite und starrte in die Dunkelheit, die ihn verschlungen hatte.
»So schnell Sie können«, sagte er zu Alice.
Dann legte er die entwendeten Unterlagen auf seinen Schoß und knipste die Deckenleuchte an, um sie lesen zu können.
Das B stand für Border Patrol, und diese Akte fasste die vor zwölf Jahren von ihr verübten Verbrechen und die gegen sie
ergriffenen Maßnahmen zusammen. Eine unerfreuliche Lektüre.
Die Grenze zwischen Mexiko und Texas war sehr lang, aber nur auf insgesamt der Hälfte ihrer Länge gab es auf amerikanischer Seite genügend Straßen und Kleinstädte, die eine ziemlich scharfe Überwachung rechtfertigten. Die Theorie besagte, dort einsickernde illegale Einwanderer könnten rasch und leicht ins Landesinnere gelangen. Andere Sektoren, die außer fünfzig oder hundert Meilen öder Wüste nichts zu bieten hatten, wurden praktisch nicht überwacht. Das Standardverfahren bestand darin, die Grenze selbst zu ignorieren und im Hinterland Tag und Nacht Fahrzeugstreifen patrouillieren zu lassen, um die Migranten an irgendeinem Punkt ihres hoffnungslosen drei- bis viertägigen Marsches durch die Wüste abzufangen. Dieses Verfahren klappte gut. Nach etwa dreißig Meilen Fußmarsch bei unerträglicher Hitze waren die Menschen meist ziemlich am Ende und ergaben sich ohne Widerstand. Die Streifenfahrten ohne bestimmtes Ziel wurden oft zu Erste-Hilfe-Einsätzen, weil die Leute, die weder Proviant noch Wasser dabeihatten, erschöpft und dehydriert waren.
Meistens hatten sie ihre gesamten Ersparnisse irgendeinem betrügerischen Schlepper gegeben, der ihnen eine Reise ins Paradies versprach. Vans und Kleinbusse brachten sie aus ihren Dörfern zur Grenze, wo der Führer dann auf einen entfernten Sandhügel zeigte und ihnen zusicherte, dass dahinter voll ausgerüstete Vans und Minibusse für ihren Weitertransport warteten. Die Migranten liefen dann los über die Grenze – nur um festzustellen, dass hinter dem Hügel keine Fahrzeuge standen. Aber sie gaben die Hoffnung nicht auf und hatten viel zu viel Angst, wieder umzukehren, und so rannten sie blindlings bis zur Erschöpfung weiter.
Und so wurden die zufälligen Streifenfahrten der Border Patrol oft zu Rettungseinsätzen.
Dann änderte sich das mit einem Mal.
Plötzlich fielen immer nachts in unregelmäßigen Abständen Gewehrschüsse. Dann raste ein Truck mit aufheulendem Motor heran und verfolgte einen einzelnen Illegalen, bis er von seinen Leuten abgedrängt war. Er wurde ungefähr eine Meile weit gejagt und niedergeschossen. Danach verschwand der Truck, und über die Wüste senkte sich wieder Schweigen.
Nicht immer lief die Sache so glatt ab.
Manche Opfer wurden angeschossen, verschleppt und gefoltert. Die Leiche eines Jugendlichen wurde mit Stacheldraht an einen Kaktusstumpf gefesselt aufgefunden. Ihm war zum Teil die Haut abgezogen worden. Andere hatte man lebendig begraben, geköpft oder verstümmelt. Drei Mädchen wurden über ein Vierteljahr lang gefangen gehalten. Bei der Lektüre des Autopsieberichts bekam man eine Gänsehaut.
Keiner der
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