In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
sahen alt aus, als sei der Familie vor Jahrzehnten das Geld ausgegangen. Oder als habe sie immer so viel besessen, dass sie den Spaß am Geldausgeben schon vor einer Generation verloren hatte. An einer Wand hing ein riesiger Spiegel, dessen reich geschnitzter Rahmen ebenfalls rot leuchtete. Ihm gegenüber befand sich ein offener Gewehrschrank, in dem sechs Jagdgewehre mit Remington-Verschluss standen. Der Spiegel warf ihr Bild zurück, sodass die ganze Diele voller Waffen zu sein schien.
»Was wollte der Sheriff?«, rief Carmen.
»Kommt erst rein«, antwortete Bobby.
Wir sind schon drin , dachte Reacher. Aber dann merkte er, dass Bobby meinte: Kommt mit in den Salon. Das war ein großer Raum auf der Rückseite des Hauses, der früher einmal die Küche gewesen sein musste. Er war umgebaut worden und ging in eine außen angebaute Küche über, deren Einrichtung mindestens fünfzig Jahre alt war. Auch der Salon mitsamt seinen Möbeln war in demselben abgewetzten oder verblichenen Rot gehalten. Die Einrichtung bestand aus einem großen Landhaustisch und acht gepolsterten Armstühlen – alle aus Kiefer, alle rot, alle bis aufs blanke Holz abgewetzt, wo sie mit ihren Benutzern in Kontakt gekommen waren.
In einem der Armstühle saß eine Frau, die Reacher auf etwas über Mitte fünfzig schätzte. Sie gehörte zu den Leuten, die sich ohne Rücksicht auf ihr Alter so anziehen, wie sie es schon in ihrer Jugend getan haben. Sie trug enge Jeans mit
Gürtel und eine nach Westernart mit Fransen besetzte Bluse. Auch ihre Frisur war die einer jüngeren Frau: hellorange gefärbt und über ihrem schmalen Gesicht hochtoupiert. Sie sah wie eine Zwanzigjährige aus, die durch irgendeine seltene Krankheit oder einen Schock vorzeitig gealtert war. Vielleicht hatte der Sheriff sie gebeten, sich hinzusetzen, bevor er ihr eine schlechte Nachricht überbracht hatte. Sie wirkte geistesabwesend und etwas benommen. Aber sie ließ auch ein gewisses Maß an Vitalität erkennen. Eine gewisse Autorität. Sie besaß noch Energie. Sie erinnerte an das Stück Texas, das ihr gehörte: ausgedehnt und mächtig, die gute Zeit schon hinter sich und in einer vorübergehenden Krise steckend.
»Was wollte der Sheriff?«, fragte Carmen nochmals.
»Etwas ist passiert«, antwortete die Frau, und ihr Tonfall verhieß nichts Gutes. Reacher sah in Carmens Blick Hoffnung aufflackern. Dann wandte sich die Frau an ihn.
»Er heißt Reacher«, sagte Carmen. »Und sucht Arbeit.«
»Wo kommt er her?«
Ihre Stimme klang scharf. Hier bin ich der Boss , sagte sie.
»Ich hab ihn unterwegs aufgelesen«, antwortete Carmen.
»Was kann er?«
»Er hat mit Pferden gearbeitet und ist auch Hufschmied.«
Reacher sah aus dem Fenster, während sie ihm Fähigkeiten andichtete, die er nicht besaß. Er hatte in seinem Leben nie mehr von einem Pferd gesehen als die Stallungen, die es auf manchen älteren Militärstützpunkten noch gab. Im Prinzip wusste er, dass ein Hufschmied Pferden Eisendinger unter die Hufe nagelte. Er wusste auch, dass man dafür ein Schmiedefeuer und einen Blasebalg benötigte und lange herumhämmern musste. Und dass dazu ein Amboss und ein Wasserbecken nötig waren. Aber er hatte noch nie ein Hufeisen in der Hand gehalten. Er kannte sie als Glücksbringer, die man über Türen anbrachte. Er wusste, dass manche Kulturen sie mit der Öffnung nach oben und manche nach unten
annagelten – damit sie so oder so Glück brachten. Aber das war alles, was er über Hufeisen wusste.
»Zu ihm kommen wir später«, sagte die Frau. »Erst müssen wir andere Dinge besprechen.«
Dann erinnerte sie sich an ihre Manieren und machte eine Handbewegung, die man als Begrüßungsgeste deuten konnte. »Ich bin Rusty Greer«, sagte sie.
»Wie der Baseballspieler?«, fragte Reacher.
»Ich war schon Rusty Greer, als er noch gar nicht lebte«, sagte die Frau. Dann wies sie auf Bobby. »Meinen Sohn Robert haben Sie bereits kennen gelernt. Willkommen auf der Red House Ranch, Mr. Reacher. Vielleicht haben wir Arbeit für Sie. Wenn Sie fleißig und ehrlich sind.«
»Was wollte der Sheriff?«, fragte Carmen zum dritten Mal.
Rusty Greer wandte sich ihr zu, starrte sie an. »Sloops Anwalt ist verschwunden«, sagte sie.
»Was?«
»Er war auf der Fahrt ins Bundesgefängnis, um Sloop zu besuchen. Dort ist er nie angekommen. Die State Police hat seinen Mercedes südlich von Abilene verlassen am Straßenrand aufgefunden: leer, meilenweit von der nächsten Ansiedlung entfernt, Schlüssel
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