In Liebe, Rachel
das sie aus dieser ganzen Katastrophe gelernt hatte, dann dass sie fünfzehn Jahre wirklich etwas geleistet hatte.
Und an diesem Punkt wurde es kritisch. Für die Kinder würde sie alles tun. Sie würde in ihr altes Leben zurückkehren – sogar das Fallschirmspringen aufgeben, wenn es sein musste –, nur damit sie für sie da sein konnte. Um der Kinder willen würde sie sogar eine Ehe mit einem Mann weiterführen, der sich vielleicht nicht mehr so sicher war, ob er sie noch liebte.
»Kate!« Jo stieß ihre Freundin an. »Du wirst nicht einfach klein beigeben, oder?«
Kate neigte den Kopf. »Was meinst du damit?«
»Süße, du weißt, dass er nicht der Einzige ist, der ungerecht behandelt wird …«
»Paul wird das aber so sehen.«
»Dann musst du ihn zur Vernunft bringen.« Jo griff nach rechts, ohne den Blick von der Straße zu nehmen, und zerrte den Ärmel von Kates Sweatshirt hoch. Mit einem manikürten Fingernagel tippte sie auf das verblasste Hennamuster auf dem Unterarm ihrer Freundin. »Das ist das Zeichen der alten Kate«, sagte sie, »und ich
liebe
diese Frau. Ich fand es grandios, dass du aus dem Flugzeug gesprungen bist. Ich war beeindruckt, dass du im indischen Dschungel auf einem Elefanten geritten bist. Ich finde es toll, dass du einen nigerianischen Waffenschmuggler kennengelernt hast …«
»Eigentlich ist er Engländer. Er war in Oxford. Es ist schwer, mit Freude an all das zu denken«, antwortete Kate, während sie den Ärmel wieder über ihre Hand zog. »Besonders, weil mir bald die Rechnung für meine verbotenen Freuden präsentiert wird.«
»Schätzchen, du hast doch keinen Sexurlaub in Bangalore gemacht. Nein! So kann es nicht weitergehen, Kate.« Jo griff nach dem iPod in Kates Schoß und scrollte mit dem Daumen durch das Menü. »Keine Nina mehr, keine Joss, keine Amy Winehouse. Keine jammernden, klagenden Frauen mehr. Du deprimierst mich.«
»Hey, das ist dein iPod.«
»Liebes, du darfst nicht einfach klein beigeben. Das darfst du dir nicht antun. Oder mir.« Jo suchte weiter auf ihrem iPod, während sie das Auto mit einer Hand lenkte. »Wenn du nachgibst, ohne um eure Beziehung zu kämpfen, dann wird es dir nicht bessergehen als in der Zeit vor dem Fallschirmsprung.«
»Das Leben davor war eigentlich in Ordnung«, entgegnete Kate unwillig. »Ich hatte ein schönes Haus, tolle Kinder, Versicherungen, Sex dienstags und samstags …«
»Ich höre mir das nicht länger an! Erzähl mir bloß nicht, dass du nicht alles haben kannst! Ich habe jetzt auch ein Kind, Kate. Ich zähle auf dich. Du musst mir zeigen, dass ich trotzdem ein ausgefülltes Leben haben kann.«
Kate griff wieder nach der heißen Schokolade. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte geglaubt, ein ausgefülltes Leben zu haben, bis Rachel sie zum Fallschirmspringen geschickt hatte. Vielleicht hatte Rachel lange vor Kate erkannt, dass ihre Beziehung zu Paul im Sterben lag.
Nein!
»Hier, wir hören uns jetzt das an.« Jo drückte auf »Play« und warf Kate den iPod wieder in den Schoß. »Und, meine Liebe, ich will dich singen hören.«
»Warum? Magst du etwa schiefen Gesang?«
Jos Grinsen wurde breiter. »Erinnerst du dich an die Karaoke-Bar, in die wir immer gegangen sind, als du noch downtown gearbeitet hast? Du hast immer den meisten Beifall bekommen.«
»Ich war blond.« Kate zog an einer Haarsträhne. »
Natur
blond.«
»Und du klangst wie ein verwundeter Hund. Komm schon, keine Angst, dieser BMW ist schalldicht. Sing, so laut du kannst, Schätzchen. Ich will, dass du es wirklich fühlst.«
Kate warf einen Blick auf den iPod, als die Musik einsetzte: Gloria Gaynors »I Will Survive«. Sie verdrehte die Augen. »Hilfe! Das staubt aber gewaltig.«
»Nur zu, Süße, mach dich nur darüber lustig. Danach kommt George Michael, und du kannst jedes Wort auswendig.«
Kate erinnerte sich plötzlich an eine Zeit vor vielen Jahren, als die Kinder noch klein und sie und Paul nach Ohio zu ihrer Mutter gefahren waren. Sie waren wie benebelt von all den Disney-Liedern, die sie auf der Fahrt gehört hatten, und hatten schließlich ihre eigenen schmutzigen Texte erfunden, bis Paul vor Lachen kaum noch Luft bekam.
Kate schluchzte plötzlich auf.
»Verdammt!« Jo nahm die nächste Ausfahrt. »Das sollte dich eigentlich aufheitern.«
»Es sind nur die Erinnerungen an schöne Zeiten.« Kate blickte durch das getönte Fenster nach draußen, wo das Ortsschild sie in ihrer Heimatstadt willkommen hieß.
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