In Liebe, Rachel
weiß, wie es ist, wenn man von einer Familie zur nächsten geschickt wird.« Wenn man nie weiß, wann die Leute vom Jugendamt auftauchen und ob sie nur einen Kontrollbesuch machen oder ob man wieder fortgeschickt wird, weil man beim Abendessen auf die Erbsen gespuckt hat. Sie schluckte einen trockenen, größer werdenden Kloß in der Kehle hinunter. »Es ist die Hölle, so aufzuwachsen.«
Eine Erinnerung traf sie wie ein Blitzschlag.
Rachel, wie sie nach ihrem ersten Besuch in der Fruchtbarkeitsklinik auf der Couch lag, die Beine hoch in der Luft, breit grinsend, als sie ihr letztes Bier trank, während Jo kopfschüttelnd eine Marlboro rauchte.
Rachel, ich verstehe dich immer noch nicht. Du wirst sehr, sehr schwanger sein, du wirst nicht mehr Fallschirm springen können, du wirst nicht mehr jenseits der Baumgrenze wandern können, und dies hier wird dein letztes Bier sein. Warum tust du das?
Das Babyfieber. Kate hat mich angesteckt.
Nun, Süße, dieses Fieber wird mich garantiert nie erwischen.
O Jo, sei dir da nicht ganz so sicher. Ich finde, du solltest über eine Adoption nachdenken.
Soll ich einen Hundewelpen adoptieren?
Ein Kind, Jo, ein Kind. Wer wüsste besser als Bobbie Jo Marcum, wie man sich um ein kleines Waisenmädchen kümmert?
Mit zitternden Händen trank Jo von ihrem Tee, der ihr die Zunge verbrannte, doch das war ihr gleichgültig. Sie wollte ihr Gesicht verbergen, die Erkenntnisse, die auf sie einprasselten. Sie hatte sich eingeredet, dass Rachel sie ausgewählt hatte, weil sie – mehr als alle anderen von Rachels Freundinnen – es sich leisten konnte, ein Kind zu versorgen. Jetzt erkannte Jo, dass ihre finanziellen Verhältnisse überhaupt nichts damit zu tun hatten.
Rachel hatte gewusst, dass es so kommen würde. Sie hatte gewusst, wie sehr ihre Mutter Grace liebte, dass sie darauf bestehen würde, die Vormundschaft zu bekommen. Sie hatte gewusst, wie weichherzig und ergeben Jessie war, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse hinter die der Familie zurückstellen würde. Rachel hatte viel nachgedacht, während sie im Bett lag und immer weniger wurde. Wie sollte es mit ihrer Tochter weitergehen, der niedlichen Grace, die man in dem Chaos aus Arztbesuchen, mobilem Pflegedienst, geänderten Medikamentendosen und Wäschebergen vergessen würde? Rachel hatte gewusst, dass ihr Tod ganz neue Probleme aufwerfen würde, die sie sich noch nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte.
Und da kam Jo ins Spiel. Sie wusste, was mit kleinen Waisenmädchen geschah. Wer könnte sich besser um ein solches Kind kümmern als eine Frau, die selbst einmal in dieser Lage gewesen war?
Jo blickte über den Rand ihrer Teetasse auf die zwei Frauen, die vor ihr saßen, und ihr wurde das Herz schwer. Beide liebten Grace, das war offensichtlich. Sie wollten sie nach Hause holen, zu ihrer Familie. Sie hatten deshalb sogar einen Anwalt aufgesucht. Zwei großherzige, wohlmeinende Frauen saßen vor ihr, doch der Einfluss ihres Handelns auf Grace’ Wohlergehen war ihnen nicht klar. Sie hatten nicht den Überblick, über den Jo aus eigener, bitterer Erfahrung verfügte.
»Ich will euch etwas sagen, meine Lieben.« Jo stellte die Tasse ab. »Grace hat großes Glück, so viele Menschen um sich zu haben, die sie so sehr lieben.«
In der darauffolgenden Stille waren plötzlich Sarahs Schritte im Wohnzimmer zu vernehmen.
Jessie blickte hinauf in Richtung Badezimmer. »Grace weint nicht mehr. Kommt sie runter, Sarah?«
»Noch nicht.« Sarahs Gesicht wirkte seltsam heiter. »Sie braucht noch ein paar Minuten.«
»Warum hat sie denn so geweint?«, fragte Mrs Braun. »Weshalb der ganze Aufstand?«
»Sie hat etwas von ›Lots o’ Tots‹ erzählt.« Sarah bückte sich, um die Decke vom Boden aufzuheben, und legte sie sich wieder um die Schultern. »Sie hat immer wieder gesagt, dass sie nicht zurück zu ›Lots o’ Tots‹ will.«
Jessie tauschte einen schuldbewussten Blick mit Mrs Braun und murmelte: »Haben wir sie zu oft dort gelassen?«
»Nein, nein, das kann nicht sein.« Mrs Braun schüttelte den Kopf. »Sie sollte doch andere Kinder um sich haben. Deshalb haben wir sie dorthin gebracht.«
»Die vielen Arzttermine …« Jessie lehnte sich an den Barhocker. »Und die Termine beim Physiotherapeuten.«
»Nein, nein, Jessie, mach dir keine Gedanken«, beharrte Mrs Braun. »Es wäre nicht gut für Grace gewesen, immer allein zu sein.«
»Einmal kam ich zu spät …«
»Es hat ihr dort gefallen, ganz sicher.« Mrs
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