In Liebe, Rachel
Einheimischen freundlich, aber auch voller Ehrfurcht behandeln, denn Verrückte galten als eine Art Orakel. Hier in L. A. trug jeder wie Jo diese kleinen Geräte am Ohr, und alle sprachen mit sich selbst, laut, selbst in Gesellschaft anderer. Und viel zu oft ertappte sich Sarah dabei, wie sie die Frauen anstarrte. Manche waren so feingliedrig und sahen dabei an strategischen Stellen wie aufgepumpt aus, dass sie nur noch das Fehlen der Nähte an Armen und Beinen von den Barbie-Puppen unterschied, mit denen Sarah als Kind gespielt hatte.
Als sie es nicht länger aufschieben konnte, lieh sie sich den alten Volkswagen und fuhr zu der Büroadresse, die Colin ihr gegeben hatte. Sie stellte den Wagen auf dem Parkplatz eines glänzenden, verglasten Gebäudes ab und blinzelte zu den glitzernden Fenstern hinauf, die Augenlider gegen die unbarmherzige südkalifornische Sonne zusammengekniffen. Hinter einem dieser Fenster saß Colin in einem weißen Kittel in seiner Praxis und betreute seine Patienten. Irgendwo in diesem Gebäude saß Colin in seiner Welt.
Die Eingangstüren glitten auf, und Sarah trat in die kühle Lobby. Ihre flachen Gummisohlen machten kein Geräusch in der beeindruckend großen Empfangshalle, an deren anderem Ende ein Portier hinter einem niedrigen, glänzenden Empfangstresen saß. Sarah war jetzt schon ein paar Tage in L. A., doch sie hatte den Schock noch nicht überwunden, der sie jedes Mal überfiel, wenn sie in die Staaten zurückkehrte. Der plötzliche Mangel an bestimmten Reizen verwirrte sie immer wieder aufs Neue. Diese Gebäude hatten keine Gerüche, so wenig Farbe, so viel Glanz und Stein, so wenige Menschen hielten sich darin auf und so wenig überschäumendes Chaos. Alles hier war ruhig, offen, so … sauber.
»Ich möchte zu Dr. O’Rourke, bitte.« Sie beugte sich über das schwere, ledergebundene Besucherbuch, in das sie sich eintragen sollte, und reichte dem Portier ihre Umhängetasche aus Hanf. Erst während er sie behutsam untersuchte, bemerkte Sarah, dass sie grau vor Staub war und überall gezogene Fäden zu sehen waren. Zusammen mit der Tasche reichte der Mann ihr schließlich einen Besucherausweis und deutete auf die Aufzüge. Dort trat sie zur Seite, als die Türen sich öffneten und ein Schwarm nicht ganz echter Blondinen mit großen Sonnenbrillen heraus- und an ihr vorbeiwirbelte. Sie schienen soeben erst
Baywatch
entsprungen zu sein.
Sarah betrachtete sie mit der Neugier einer Anthropologin. Zugegeben, diese Art weiblichen Herausputzens ließ sich durchaus mit den traditionellen Narben nigerianischer Stämme oder den Hennabemalungen indischer Bräute vergleichen, und auf Sarah wirkte diese Gruppe nahezu identischer Blondinen verblüffend exotisch.
Die Praxis von Colin und seinen Partnern nahm beinahe die Hälfte des obersten Stockwerkes ein. Die Aufzugtüren gaben den Blick auf eine große Glaswand frei, auf der in großen schwarzen Buchstaben Colins Name und die seiner Partner standen. Das »Zentrum für Wiederherstellungschirurgie« darunter gab Aufschluss über das Tätigkeitsfeld des Unternehmens. Als Sarah durch die Tür trat, blickte eine schlanke junge Frau von ihrer Arbeit auf. Der dunkelrote Rahmen der Brille der Empfangsdame passte zu den Ohrsteckern und der Halskette mit übergroßen Perlen.
»Mein Name ist Sarah Pollard. Ich würde gern mit Col … Dr. O’Rourke sprechen.«
Die junge Frau runzelte die Stirn und blätterte in einem Terminkalender auf dem Tisch. »Es tut mir leid, aber ich kann Ihren Namen nicht finden.«
»Ich habe keinen Termin.«
Diese Wimpern konnten einfach nicht echt sein. Genauso wenig wie die Brüste, die das T-Shirt mit der seltsamen Strassaufschrift BOTOX einer Belastungsprobe unterzogen.
»Es tut mir sehr leid«, sagte die Frau, »aber keiner der Ärzte kann Sie ohne Termin empfangen.«
Die Empfangsdame erfasste mit einem Blick Sarahs Batikbaumwollshirt, den weiten Rock, die unlackierten Fingernägel. Sarah strich mit dem Daumen über den Riemen ihrer Umhängetasche und erkannte den abschätzenden Blick, der überall auf der Welt gleich war: Sarahs Bedeutung wurde überprüft – und für sehr gering befunden.
»Dr. O’Rourke erwartet mich«, sagte Sarah. »Wir waren letzte Woche zusammen in Bangalore. Vielleicht hat er vergessen, Ihnen meinen Besuch anzukündigen.«
Zögernd deutete die junge Frau mit dem Kinn auf eine elegante Ledercouch. »Bitte setzen Sie sich. Er befindet sich gerade in einem Gespräch, aber ich
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