In Liebe, Rachel
sie neugierig anstarren – diese Kuriosität, den kleinen braunen Zaunkönig, der Dr. O’Rourke eingefangen hatte, die Krankenschwester, die
dort draußen
in den Entwicklungsländern gewesen war, die die eiternden Wunden der Leidenden gesäubert hatte. Sie konnte sie vor sich sehen: die gepuderten Frauen mit den schicken Hüten, die gebräunten Fünfzigjährigen, die jungen Frauen der Mächtigen in ihren Tennisröckchen. Sie konnte ihre Blicke auf sich spüren, Blicke voller Unglauben und Entsetzen. Ganz sicher würden sie ihr viele Schecks ausstellen, um sie davon erzählen zu hören, wie die Welt außerhalb ihrer tiefgekühlten Büros und geräumigen Häuser
wirklich
aussah. Sie würde ein Vermögen sammeln. Dann könnte sie das Geld direkt an jemanden geben, der wirklich etwas bewirken konnte, an jemanden, der vor Ort war.
Jemand Kompetentes, Starkes, Kluges.
Jemand wie Sam.
Sarah schlang die Arme um ihren Körper. Sie durfte sich nicht darüber lustig machen. Colin leistete schließlich wirklich gute Arbeit. Sie war nicht dumm. Sie wusste, dass es ohne Geld keine mit Insektiziden imprägnierten Moskitonetze gäbe und auch keine Reislieferungen. Doch ihr Kopf schmerzte bei dem Gedanken an enge hochhackige Schuhe und die Kleider, die sie würde tragen müssen, und an die vielen Gläser Alkohol. Ihr Kiefer schmerzte bei dem Gedanken an die vielen Unterhaltungen. Und ihr Herz schmerzte, weil diese Arbeit, so sinnvoll sie war, einfach besser zu eleganten jungen Frauen passte, die schwarze schulterfreie Kleider tragen und ihre Nasen bei einem Glas Champagner kräuseln konnten.
Sie hatte gespürt, dass es so enden würde, seit sie Colin in dem Apartment in New York gegoogelt hatte. Am meisten hatte sie Ernüchterung und ein gebrochenes Herz gefürchtet, doch sie fühlte keins von beidem.
Sie fühlte Dankbarkeit, dass er immer noch so viel für sie empfand, um ihr sein Leben anzubieten und sich selbst, trotz aller Unterschiede. Sie fühlte tiefes und ernsthaftes Bedauern. Bedauern darüber, dass sie während der langen Jahre nicht in Kontakt geblieben waren, ein Kontakt, der ihre Fantasie, die sie von dem Mann, den sie zwar nur kurz, aber intensiv gekannt hatte, erschaffen hatte, auf den Boden der Tatsachen gestellt hätte. Sie fühlte auch Trauer. Trauer darüber, dass sie beide freiwillig und aus launenhaften Gründen von einer Leidenschaft abgelassen hatten, die zu einer seltenen und wunderbaren Liebe hätte erblühen können. Doch die stärkste Empfindung, die alles überstrahlte, war unendliche Erleichterung.
Erleichterung.
»Sarah?«
O Colin, Rachel hat recht gehabt. Ich hatte mein Herz all diese Jahre in einen Käfig eingesperrt. Wunderschön und golden, aber eben ein Käfig.
Sie ging auf ihn zu, streckte ihre Hand nach seinem Gesicht aus. Ihre Finger strichen seinen Kiefer entlang und wanderten nach hinten in seinen Nacken. Sein Blick flackerte, als sie sich an ihn drückte, ihre Batikkleidung übertrieben bunt an seinem sachlichen Anzug. Sie schloss die Augen und atmete tief ein.
Ja, er roch nach Parfüm oder Aftershave oder was Männer sonst so trugen, ein feiner und eigenartig berauschender Duft. Die vertraute Erregung begann in ihr zu prickeln, das wachsende Verlangen. Sie gestattete sich diese Gefühle, untersuchte sie mit beinahe wissenschaftlicher Distanz und hielt ihm ihre Lippen entgegen. Seine Wange lag an ihrer, und es überraschte sie, keine Stoppeln an seiner weichen Haut zu spüren. Seine Lippen strichen über ihren Mund, dann gab er sie frei, um seine Finger in ihrem Haar zu versenken, ihren Kopf zu halten. Erneut senkte sich sein Mund auf ihren.
Colin. Der einzige Mann, von dem sie glaubte, sie würde ihn für immer lieben. Die Erinnerungen stürzten schnell und heftig auf sie ein, jagten wie ein alter Acht-Millimeter-Film an ihrem geistigen Auge vorüber, glich den Filmen, die ihre Eltern von ihren frühen Auslandsreisen aufbewahrt hatten. Sie erinnerte sich daran, wie Colin zusammen mit Sam in einer Staubwolke ins Dorf gefahren war, und sie erinnerte sich an die sechs angespannten Stunden der OP . Sie erinnerte sich an Colin, der verschwitzt und zerzaust, wie er war, unbedingt helfen wollte und zornig darüber wurde, wie einfach seine besten Absichten ausgebremst wurden. Sie erinnerte sich, wie Colin mit Sam das Dorf verließ, ohne sich zu verabschieden – und sie zurückließ.
Vierzehn Jahre hatte sie seither von ihm geträumt, während er auf einem anderen Kontinent glaubte,
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