In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
Gebrochene Finger
Knut erwachte im Hotelzimmer. Er spritzte sich lauwarmes Wasser aus dem Hahn des Waschbeckens ins Gesicht, spülte sich den Mund aus, packte die Sachen auf dem niedrigen Tisch zusammen und ging die kurze Strecke bis zum Konsulat allein durch die menschenleere Bergarbeitersiedlung. Es war früh am Morgen, eine schmale Mondsichel leuchtete am Himmel. Noch immer war es windstill und eiskalt. Mit anderen Worten: optimales Flugwetter.
Die junge dralle Sekretärin des Konsulats – heute bekleidet mit einem moosgrünen Kostüm und einer kurzen, engen Bluse – wies ihn in das leere Büro des Konsuls. Knut wurde gebeten, am Couchtisch zu warten, er bekam eine Tasse Kaffee und einen Teller süßer Kekse. Sie ging zurück ins Vorzimmer und führte ein hastiges Telefonat. Kurz darauf erschienen beide – der Dolmetscher und der Konsul.
Der Dolmetscher sah erstaunlich ausgeruht aus, er trug ein sauberes Hemd und einen unmodernen, bunten Schlips. Er übersetzte fließend und höflich wie bei einem Fremden – als wären Knut und er nicht erst vor wenigen Stunden die letzten Meter aus dem alten Grubengebiet fast gekrochen, bevor sie sich getrennt hatten.
Auch der Konsul hatte ausgezeichnete Laune. »Der Direktor hat mir berichtet, dass Sie sich vorbildlich eingesetzt haben, um letzte Nacht die Arbeiter zu beruhigen. Gut geschlafen? Haben Sie in der ausgezeichneten Cafeteria des Hotels gefrühstückt, oder haben Sie heute keinen Hunger?«
Er zwinkerte sogar. Knut spürte einen Anflug von Irritation, der allerdings rasch wieder verschwand. Es hatte keinen Sinn, sich aufzuregen und das Gespräch zu verkomplizieren. In ein oder zwei Stunden saß er an Bord eines Hubschraubers auf dem Weg nach Osten. Allerdings mit einer Leiche neben sich. Er überlegte, ob er dem Büro der Regierungsbevollmächtigten Bescheid geben konnte, damit der Tote im Krankenhaus von Longyearbyen von einem Arzt untersucht wurde. War es möglich? Welche Art von Befugnissen hatten die norwegischen Behörden in derartigen Fällen?
»Polizeibeamter Fjeld?«
Er blickte auf und schaute in die Augen des Dolmetschers. Was hatte er ihn gefragt?
»Dimitri Petrowitsch … der Konsul … würde gern den Papierkram erledigen. Man muss vor dem Abtransport des Toten gewisse Vorbereitungen treffen … Wären Sie so freundlich und unterzeichnen dieses kleine Formular? Danach können wir uns in die Büroräume des Trusts begeben; in dem Gebäude, das ich Ihnen gestern gezeigt habe. Der Direktor ist Ihnen dankbar und möchte dies zum Ausdruck bringen. Es wird echten russischen Kaviar geben … eine große Ehre für Sie.«
Blinzelte nicht auch der Dolmetscher so geheimnisvoll, was hatten die beiden vor? War diese Munterkeit den Umständen entsprechend angemessen? Dem Dolmetscher gelang es allerdings nicht so routiniert wie dem deutlich älteren Konsul. Die aufgesetzte Freundlichkeit erreichte nicht seine Augen.
»Könnte ich ein kurzes Telefonat mit meinem Büro in Longyearbyen führen?« Selbstverständlich konnte er. Das Lächeln des Konsuls ließ sich nicht vertreiben.
Der Konsul ging ins Vorzimmer voraus. Die Uhr zeigte kurz nach acht. Tom Andreassen war bestimmt noch nicht im Büro. Durfte er den Polizeichef zu Hause stören? Ja, in Anbetracht der Entwicklung dieses Besuchs unbedingt. Zumal, wenn man die Ereignisse der Nacht dazuzählte.
Irritiert begriff Knut, dass er nicht frei sprechen konnte. Die Russen würden mithören, auch wenn sie den Raum mit großer Gebärde verlassen hatten. Er konnte doch schlecht eine norwegische Obduktion verlangen, wenn die Russen hinter der Tür standen und lauschten.
Es klingelte lange am anderen Ende der Leitung. Niemand nahm ab. Er wählte eine weitere Nummer, diesmal die Privatnummer der Regierungsbevollmächtigten Isaksen. Auch dort keine Antwort. Was ging in Longyearbyen vor, wo waren sie alle?
Knut ging zurück ins Büro des Konsuls. Sie sahen ihn erwartungsvoll an.
»Ein Besuch beim Trust hört sich gut an. Russischen Kaviar habe ich noch nie probiert. Aber diese Papiere kann ich trotzdem nicht unterschreiben, bevor ich nicht mit dem Polizeichef gesprochen habe. Ich verfüge nicht über die notwendige Autorität in derartigen Fällen …« Knut ahmte bewusst die vage und geschwollene Ausdrucksweise des Dolmetschers nach. Er hoffte, damit seine eigentliche Aussage übertünchen zu können. Er hatte ein unangenehmes Gefühl bei der Situation.
Knut hatte tatsächlich noch nie russischen Kaviar gegessen.
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