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In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)

In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)

Titel: In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica Kristensen
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jedenfalls erinnerte er sich nicht. Und an diesen Mann hätte er sich bestimmt erinnert: groß wie ein Haus, das Haar so kurz geschnitten, dass er kahl wirkte; kleine Ohren, die dicht an einem Kopf mit breiten Kiefern und flacher Stirn lagen. Der Riese lächelte breit, und Knut sah, dass er so gut wie keine Zähne mehr besaß, nur drei, vier Stümpfe im Unterkiefer. In den Augen spiegelte sich das breite Lächeln nicht wider, sie glänzten leer und ausdruckslos. Konnte es sich um einen geistig Zurückgebliebenen handeln? Knut schämte sich für den Gedanken, vielleicht war der Mann bloß unsicher und kannte niemanden auf dem Fest. Aber es sah aus, als hätte er ihn tatsächlich wiedererkannt, und Knut erwartete, dass er sich bis zu dem Bett, auf dem er saß, durchzwängte. Stattdessen verschwand der Mann unter den übrigen Festteilnehmern.
    »Wer war das?«, erkundigte er sich. »Der in den Bergarbeitersachen, irgendetwas war eigenartig mit ihm. Er sah aus, als würde er mich kennen, aber …«
    Grigorowitsch, der das Geschehen verfolgt hatte, sagte etwas zu Olga. »Igor meint, du musst doch wissen, wer Anton ist? Er ist mit Vanja verwandt und kam letzten Sommer nach Barentsburg. Igor will wissen, warum du Anton nicht verhört hast. Wenn jemand etwas über den Todesfall weiß, dann er.«
    Wieder schlug die Tür zu, erneut war jemand gekommen. Es wurde still im Raum. Füße scharrten über den Boden, die Leute wandten sich ab. Zwischen den Arbeitern vor dem Bett öffnete sich ein schmaler Spalt. Knut beugte sich vor, um besser sehen zu können. Und da stand sie. Eine schmächtige Gestalt in einer viel zu großen Bergarbeiterjacke. Kurzes blondes Haar. Graue Augen. Sie sah viel zu jung aus, um an einem Fest wie diesem teilzunehmen. Intuitiv wusste Knut, wer sie war. Was macht sie hier? , dachte er.
    »Oksana, du bist zurück?« Olga rief sie mit einer aufgesetzten Munterkeit, sprang vom Bett und lief auf das Mädchen zu. Zog sie mit sich. Und plötzlich redeten alle wieder miteinander, die Musiker fingen an zu spielen. Das Zimmer war voller Menschen, die tranken, sangen und übereinander stolperten. Dichter Zigarettenrauch sammelte sich unter der Decke.
    »Es tut mir leid um Ihren Ehemann.«
    Knut hoffte, dass sie ein wenig Norwegisch verstand, und schaute sie verwundert an. Das konnte doch nicht dieselbe Frau sein, die er gestern Abend in der Kapelle gesehen hatte? Die sich am Sarg ihres Mannes den Tränen hingegeben hatte? Sie sah eher aus wie ein Junge, ein junger Lehrling im Bergwerk. Die Hände waren kräftig und von der Arbeit gezeichnet, unter den Nägeln zeigten sich schwarze Ränder. Sie zog die große Leinenjacke aus und trug darunter nur ein grauweißes, löchriges Unterhemd. Ihre Arme wirkten stark, sehnig. Jeder sah, dass sie keinerlei Versuch unternommen hatte, sich für das Fest hübsch zu machen. Keine Schminke im Gesicht, das Haar ungekämmt. Trotzdem war sie gekommen, um an diesem Fest teilzunehmen.
    Als hätte ihr jemand seine Gedanken verraten, sagte sie: »Wir haben noch viele Tage und Wochen Zeit, um meinen Vanja zu beweinen. Die Trauer verschwindet nicht. Es hilft, hier zu sein, unter all den Menschen. Die innere Stille legt sich ein wenig, wenn Trubel um mich herum ist.« Ihr Gesicht veränderte sich, glitt fort.
    Knut verstand sehr gut, was sie meinte. Er wollte es ihr sagen, aber der Lärm war zu groß. Er wusste auch nicht, was er sonst hätte sagen sollen, und schon bald verschwand sie im Gedränge. Hin und wieder sah er sie, sie redete mit den Leuten. Rauchte. Knut bemerkte, dass der riesige Russe sie die ganze Zeit mit den Augen verfolgte.
    Irgendetwas ließ sich nicht recht greifen, eine unterschwellige Stimmung unter den Teilnehmern des Festes, von der er ausgeschlossen blieb. Zielbewusst ging er auf das Mädchen zu.
    »Kann ich morgen Vormittag mit Ihnen sprechen? Über den Tod Ihres Mannes?«
    »Natürlich. Ich hatte erwartet, dass …«
    »Ich habe es mehrfach versucht, aber es hieß, Sie wären noch nicht in der Verfassung. Vollkommen verständlich. Ich glaube, der Direktor möchte Sie schützen …«
    »Ahhh.« Diesmal gab es keinen Zweifel an ihrer Reaktion. Es war Verachtung.
    Das Fest ging unvermindert weiter. Sie hieß Oksana und erzählte, der Name würde »Gastfreundschaft« bedeuten. Hin und wieder kam sie zu ihm, setzte sich neben ihn, stand hinter ihm oder zeigte sich ihm zwischen Gästen auf der anderen Seite des Zimmers. Dann verschwand sie wieder. Knut dachte, sie hätte

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