In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
Dunkelheit suchten. Die Strafe war gnadenlos – lange Vorträge über die Bedeutung des Unterschieds von einem Zehntelgrad Temperaturabweichung zum Vorjahr an der Oberfläche des endlosen Meeres, ein paar Zentimeter dünneres Eis, ein paar Eisbären mehr oder weniger … enthusiastische Expeditionsleiter organisierten abendliche Vorträge für die Mannschaft, und der Kapitän verlangte, dass die Seeleute, die Freiwache hatten, daran teilnahmen.
Es gab schlimmere Fahrten – im offenen Meer zum Beispiel. Endlose ozeanographische Untersuchungen bei leichter Fahrt in berghohen Wellen. Solche Reisen konnten selbst den erfahrensten und geduldigsten Seemann verzweifeln lassen.
»Nein, sehen Sie …« Der Steuermann zeigte ungefähr fünfzehn Grad steuerbord vom Bug und freute sich, dass er als Erster die Bewegungen ein paar hundert Meter vor dem Schiff bemerkt hatte.
»Meine Herren, ein Riesenvieh.« Der Kapitän richtete sein Fernglas auf den Schatten vor ihnen.
»Scheiße noch mal!« Der Rudergast, der ebenfalls mit einem Fernglas neben ihm stand, japste vor Begeisterung. Es war sein erster Eisbär. »Und wer steht im Augenblick am Ruder?«, brummte der Kapitän gutmütig.
Sie beobachteten, wie der Eisbär am Forschungsschiff vorbeiwanderte. Er hatte sie höchstwahrscheinlich gesehen, lief aber weiter über das Eis und die kleinen Eisberge. Im Halbdunkel schimmerte er weiß. Eine Sagengestalt, ein enormer Riese, ein Männchen.
»Ich glaube, das ist der Größte, den ich je gesehen habe«, flüsterte der Steuermann. »Gut, dass man jetzt nicht auf dem Eis ist. Was meinen Sie, wie viel bringt der auf die Waage?«
Der Kapitän nahm das Fernglas nicht von den Augen. »Keine Ahnung, aber schwer ist er. Acht-, neunhundert Kilo? Das Fell dieses Burschen würde sich sicher zuhause vorm Ofen gut machen. Vielleicht sollten wir …?«
»Oh, hey, hey … was macht er denn jetzt?« Der Matrose stand wieder neben ihnen. Er zitterte vor Anspannung und hob eine altertümliche schwere Spiegelreflexkamera vor das Glas des Bullauges.
Der Eisbär hatte sich auf seinen kräftigen Hinterbeinen erhoben, reckte seine Schnauze in Richtung des Schiffs und schnüffelte.
»Er riecht das Essen aus der Messe«, sagte der Steuermann und drehte sich zu dem Matrosen um. »Setz das Nebelhorn ein. Wir müssen ihn verjagen, sonst bekommen wir Probleme, wenn wir die Wissenschaftler vom Eis holen müssen.«
Professor Heinz Iwanowitsch Gorodin, pensionierter Wissenschaftler der Universität Moskau und Ehrendoktor einer Reihe westlicher Forschungsinstitutionen, stieg die Leiter zur Brücke hoch. Langsam und mit Schmerzen in den morschen Kniegelenken. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er auf dieser Reise wenig zu tun. Aufgrund seines hohen Alters und seiner anfälligen Gesundheit wurde nicht von ihm erwartet, dass er die Kollegen zur Eisstation begleitete. An Bord hielt er sich von den Laboratorien fern, in denen die wissenschaftlichen Assistenten ihre sorgfältigen Analysen vornahmen. Selbstverständlich wusste er von den geheimen Räumen im Inneren des Schiffes, doch als verantwortungsvoller Gast hatte er nicht vor, irgendjemandem davon zu erzählen. Daher hielt er sich viel auf der Brücke auf, diesem umtriebigen Ort im Halbdunkel, in dem die Navigationsinstrumente summten und blinkten. Hier konnte er verfolgen, wie weit die »Krasin« auf ihrer vorgesehenen Route gekommen war. Sein größter Wunsch war es, den Nordpol zu erreichen, eine letzte Krönung seiner langen Karriere. Er hatte das Versprechen der wissenschaftlichen Leitung in Sankt Petersburg, dass er der Welt von dem historischen Treffen der beiden Eisbrecher am Nordpol berichten durfte. Er sollte alle Interviews geben und bei den Videoaufnahmen ganz vorn auf Deck stehen. Gorodin ging davon aus, dass die »Krasin« den Pol zuerst erreichte.
Als der Professor seinen letzten Schritt auf die oberste Stufe der Leiter setzte, stieß das Nebelhorn ein gellendes Geheul aus. Erschrocken griff er nach etwas, an dem er sich festhalten konnte, und rief irritiert: »Was ist denn hier los?«
»Oh, Sie sind es, Professor. Kommen Sie ans Fenster und schauen Sie in diese Richtung. Sehen Sie ihn?« Der Kapitän wies über das Eis, wo der Bär sich mit großen Sätzen vom Schiff entfernte. »Wir mussten ihn verjagen. Die Wissenschaftler werden bald zurückgeflogen, es wäre gefährlich, wenn sich dabei so ein Bursche am Schiff herumtriebe.«
Während der Eisbär verjagt wurde, starrte drei Deck tiefer
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