In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
mehr den Horizont. Der Himmel war blau und klar, mit Sternen übersät. Kein Mond, lediglich das bleiche Gespenst einer Kugel, die in einer ganz dünnen Silberschale ruhte und nur von einem empfindsamen Auge erkannt werden konnte. Um sie herum überall Eis in langen schmalen Packeishaufen – groß wie Berge und mit Schmelzwasserrinnen wie schwarze Flüsse. Eine vor Stille leuchtende Landschaft, dennoch nie ohne das ferne Brüllen der Eisschollen, die sich gegeneinanderschoben. Bruchstücke eines Landes, das mit dem Strom und dem Wind trieb, immer in Bewegung war und sich in einem unveränderlichen Tanz um den geographischen Nordpol drehte.
Die Anwesenheit des russischen Eisbrechers im Polarmeer war Teil eines internationalen Forschungsprogramms. In- ICEPROG , eine Zusammenarbeit zwischen Amerikanern, Deutschen und Russen. Zu Beginn der Reise war die Rede von einem Zusammentreffen des amerikanischen Eisbrechers »Arctic Sea« und der russischen »Krasin« am Nordpol gewesen. Alle an Bord, die Seeleute wie die Wissenschaftler, hatten es sehnlichst erhofft. Mit einem derartigen Zusammentreffen zweier Schiffe auf einem der einsamsten Weltmeere hätte man sich brüsten können. Kein Polarforscher war frei vom Nansen-Bazillus. Außerdem hatten die russischen Seeleute sich auf einen kleinen Tauschhandel und den Austausch von Geschenken mit den Amerikanern gefreut.
Leider hatten sie seit mehreren Tagen nichts von den Amerikanern oder der Expeditionsleitung in Sankt Petersburg gehört, das Schiff hatte die Fahrt durch das Eis wieder aufgenommen. An Steuerbord, einige Seemeilen entfernt, hatte der Hubschrauber am frühen Morgen ein Forscherteam auf dem Eis ausgesetzt. Für den Fall, dass der Rückflug sich verzögerte, hatten sie ein vorläufiges Camp mit ein paar Zelten und einigen Vorräten errichtet. Und beim letzten Funkkontakt mitgeteilt, dass sie erst in ein paar Stunden wieder aufs Schiff zurückgeholt werden wollten.
Dem Kapitän war es egal, wenn die Forscher es so wollten, konnten sie es haben. Im Übrigen waren sie fleißig und arbeiteten hart in der Kälte – sie bohrten Kerne aus dem Eis, zerteilten sie und packten sie mit äußerster Vorsicht in große schwere Kisten; sie beugten sich über ihre Instrumente, die sie im Wasser versenkt hatten, und justierten andere Ausrüstungsgegenstände. Es übertraf den Kenntnisstand des Skippers bei Weitem, er hatte keine Meinung über den Nutzen dieser Aktivitäten. Irgendwo in dem großen System, das die internationale Polarforschung finanzierte und organisierte, gab es sicher jemanden, der wusste, ob diese ganze Plackerei der Menschheit zugutekam. Er selbst hatte jedenfalls nichts gegen die Einsätze des Eisbrechers. Diese Reisen ins Innere des Polarmeers waren prestigeträchtig.
Hinter der lang gestreckten Brücke mit all ihren Navigationsinstrumenten, Echolot, Radaranlage und dem großen Ruder führte eine Tür in den Funkraum. Die Kommunikation mit den Forschern auf dem Eis, die Gespräche mit anderen Schiffen, die Satellitenverbindungen mit der Möglichkeit für Privatgespräche – alles wurde von hier aus organisiert. Die »Krasin« verfügte jedoch über weitere Kontaktmöglichkeiten mit ihrer Umwelt. Tief unter dem Hauptdeck, am Ende der schwach beleuchteten, engen Korridore verbargen sich noch andere Laboratorien und Räume. Sie befanden sich in einem geschlossenen Bereich des Eisbrechers. Wissenschaftler und andere Passagiere hatten keinen Zugang. Hier hielt sich den größten Teil seiner Wache der Kommunikationsoffizier mit einer Anzahl Offiziere auf, die allenfalls über eine vage Beschreibung ihres Aufgabenbereichs verfügten. Russland hatte den Kampf um Teile des gewaltigen Polarmeers keineswegs aufgegeben – eine Territorialforderung, die die frühere Sowjet union während des gesamten Kalten Krieges standhaft erhoben hatte. Die Kartographie des Meeresbodens war nur eines von vielen Projekten, die von diesen anonymen, versteckten Räumen im Inneren des Schiffes aus vorgenommen wurden.
Auf der Brücke standen der Kapitän und der Steuermann nebeneinander und schauten über die eisbedeckte Welt vor dem Schiff. Beide fuhren seit vielen Jahren auf der »Krasin« und kannten sich gut. Und sie kannten auch sämtliche Vor- und Nachteile von Reisen mit Wissenschaftlern in den Norden – die langen, ruhigen, aber leider auch langweiligen Tage, an denen nichts passierte. Die Seeleute hatten gelernt, nicht zu fragen, wonach die Forscher in der arktischen
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