In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
also nicht? Haben Sie mit Direktor de Rustin geredet? Oder vielleicht mit Dima? Es könnte allerdings sein, dass sie nicht die ganze Wahrheit erzählt haben …«
Ljudmila wirkte erschöpft, trotzdem fuhr sie fort. »Als der Sowjetstaat Anfang der neunziger Jahre endlich zusammenbrach, wurden viele alte Geschichten wieder untersucht. Die Menschen wünschten sich Gerechtigkeit. Sie wollten in einem anderen politischen System neu beginnen. Die Einwohner von Pischane verlangten, dass die Untersuchungen des Massakers auf dem Bauernhof im Wald wiederaufgenommen würden. Man fing an zu graben – im buchstäblichen Sinn. Merkwürdigerweise war die Brandstätte in all den Jahren unberührt geblieben. Die Leute in der Gegend glaubten, auf dem Ort läge ein Fluch, aber nun wurden die Ruinen gründlich und mit modernen Polizeimethoden untersucht. Man fand heraus, dass ein Kind fehlte, die Tochter, die 1974 sechs Jahre alt gewesen war.
Gerüchte gingen um. Leider saßen die Verbrecher noch immer in Machtpositionen, sogar innerhalb der Polizei. So gesehen hatte sich mit dem neuen System wenig geändert. Ich hörte von der Suche nach der Tochter. Es muss für die Schuldigen wie ein Schock gewesen sein, dass es möglicherweise einen Zeugen für ihre Gräueltaten gab.
Im Herbst 1984 habe ich Zasyadka ein einziges Mal besucht. Vanjas Frau war nach einer langen Krankheit gestorben. Ich brachte schlechte Neuigkeiten über Oksana, aber wir waren glücklich, dass wir uns wiederhatten … zum zweiten Mal. Endlich sah es so aus, als stünden uns keine Hindernisse mehr im Weg. Aber wir mussten ständig an Oksanas Sicherheit denken. Sie war nicht wie andere Mädchen. Sie war kindlich und vertrauensvoll, vollkommen unreif für ihr Alter. Wie sollte es mit ihr weitergehen, wenn sie gefunden würde?
Mit Entsetzen stellten wir fest, dass sie keinerlei Rechte hatte, keine Papiere. Vanja hatte nie gewagt, sie offiziell zu adoptieren, aus Furcht, sie könnte entdeckt werden. Jetzt war sie sechzehn Jahre alt, und vermutlich war es zu spät dafür. Es wäre eine einfache Sache für die mächtigen Leute, die nach ihr suchten, sie in eine staatliche Institution zu stecken – unter dem Vorwand, dass sie etwas lernen müsse, um ihr Leben zu fristen.
Ich habe Vanja vorgeschlagen, sie zu heiraten. Ich war naiv genug zu glauben, es wäre leichter als eine Adoption. Schwieriger zurückzuverfolgen. Scheinbar funktionierte mein aufopferungsvoller Plan. Wir zogen zurück nach Krasnodon, wo Dimitri Petrowitsch eine hohe Position im Büro des Bürgermeisters innehatte. Er konnte uns helfen. Die Formalitäten wurden rasch erledigt. Wir waren sehr erleichtert.
Vanjas drei ältere Kinder kamen allein zurecht. Sie hatten ihre Arbeit und ihre eigenen Familien. Auf Vorschlag von Dimitri Petrowitsch, der jetzt zu Konsul Brodskij geworden war, zogen Vanja und Oksana nach Spitzbergen. Kurz darauf kam ich auch nach Barentsburg. Eine Zeitlang ging es uns dreien gut. Wir genossen die schöne Natur und die Freiheit auf Spitzbergen, wir verdienten gutes Geld und fühlten uns sicher. Wir kamen nicht auf den Gedanken, so viel Pech zu haben, dass ausgerechnet Konstantin Nikolajewitsch de Rustin als neuer Bergwerksdirektor eingesetzt würde …«
Es hörte sich möglicherweise vollkommen verrückt an, aber Knut musste die Frage stellen. »Glauben Sie, der Direktor hat Vanja ermordet?«
»Nein. So etwas macht er nie selbst.« Ljudmila schnaubte verächtlich. »Er veranlasst, dass die Dinge geschehen. Die Handelnden sind immer andere. Dort, wo er ist, gibt es in der Regel immer auch mehrere alte … Freunde. Sie sind einander in Schuld und Bosheit verbunden, seit der ersten ungesetzlichen Handlung, die sie zusammenbrachte.«
Knut traute seinen Ohren kaum. Sie saß ganz ruhig da und goss sich Tee aus der Aluminiumthermoskanne nach. Rührte Konfitüre in den Becher. Testete vorsichtig die Temperatur mit den Lippen. »Sind Sie sich darüber im Klaren, dass Sie sich in Lebensgefahr befinden? Und Oksana auch, wenn er meint, dass sie ihn mit den alten Morden in Verbindung bringen kann.«
»Ach, Polizeibeamter Fjeld, denken Sie nach. Konstantin Nikolajewitsch weiß seit Langem davon. Er hat sich vorbereitet, hat sich Hilfe vom Festland geholt, aus Lugansk Oblast. Ein alter Freund ist nach Barentsburg gekommen. Er übernimmt für den Direktor die Drecksarbeit. So ist das mit diesen grausamen Geschichten … Solange sie verborgen sind, gibt es keinen Frieden, weder für die Opfer
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