In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
noch für die Täter. Sie alle werden gepeinigt von einer kaum auszuhaltenden Angst.«
Knut hatte die Übersicht verloren, er fühlte sich unwohl bei all den Informationen, mit denen Ljudmila ihn vollgestopft hatte. »Sie glauben, die Männer, die vor so vielen Jahren die Familie auf dem Hof bei Pischane ermordet haben, sind hier in Barentsburg?«
Ljudmila wandte den Blick ab. »Jedenfalls einer von ihnen. Er muss Vanja getötet haben.«
KAPITEL 22 Später Besuch
Vom Frauenhaus ging Knut direkt zu Oksanas Wohnheim, obwohl es schon tiefe Nacht war. Er schlich die Treppen hinauf wie ein Verbrecher, zuckte jedesmal zusammen, wenn eine Stufe knarrte. Er begegnete niemandem, und es war ihm peinlich, wie erleichtert er darüber war. Im Korridor musste er das Licht einschalten. Rasch ging er auf ihre Tür zu und zweifelte einen Moment. War es die richtige Tür? Er verwarf den Gedanken, er hatte sich die Zimmernummer gemerkt, weil es sein Alter war, siebenunddreißig.
Er klopfte. Erst vorsichtig, dann immer lauter. Niemand öffnete. Schließlich drückte er auf die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Das Zimmer war leer, das Bett gemacht, abgedeckt mit einer dicken Decke und Kissen in verschiedenen Größen. Seit seinem letzten Besuch war sie offenbar in der ehemaligen Wohnung gewesen und hatte ein paar Dinge geholt. Auf dem Nachttisch lag ihre Haarbürste, einige helle Haare steckten darin. Er schob die Bürste beiseite, vollkommen überflüssig, da nichts anderes auf dem kleinen Tischchen lag.
Knut schloss die Augen, versuchte sich den Ablauf der Ereignisse nach dem Fest in Erinnerung zu rufen. Er hatte die Bergarbeiterstiefel an der Tür ausgezogen und die Jacke auf einen Stuhl geworfen … Er sah sich um, dort stand er, er war leer. Sie hatten sich aufs Bett gesetzt, das tagsüber als Sofa diente. Knut wurde rot und wünschte, er könnte es ungeschehen machen – alles.
Das Mobiltelefon war am wichtigsten. Dumm, dass die Kamera verschwunden war, allerdings war die Qualität der Fotos ohnehin nicht sonderlich gut gewesen. Den Notizblock, der nur noch aus einer Sammlung loser, zum Teil von Salzwasser zerfressener Blätter bestand, brauchte er nicht unbedingt. Die Brieftasche? Nicht so wichtig. Es steckten nur wenige hundert Kronen darin. Die Kreditkarten konnte er sperren lassen, sobald er nach Longyearbyen kam. Am ärgerlichsten war, dass er sich einen neuen Dienstausweis und einen Waffenschein besorgen musste – zum Glück konnte niemand auf Spitzbergen damit etwas anfangen. Jeder wusste ja, wer er war. Das Handy hingegen brauchte er wirklich. Selbst mit der geringen Batteriekapazität, die es noch gehabt hatte. Er musste morgen früh so bald wie möglich die neuen Informationen durchgeben, die er von Ljudmila bekommen hatte. Er sah auf die Uhr. Eigentlich heute.
Knut hob alle Kissen auf dem Sofa. In einer Ecke fand er einen selbst gestrickten Teddy aus grauer verfilzter Wolle. Er sah alt und abgelebt aus. Arme Oksana , dachte er, was hattest du für eine merkwürdige, tragische Kindheit. Trotzdem bewahrte sie offenbar auch Erinnerungen an eine normale Jugendzeit – das Bild des schwarzen Pferdes an der Wand, dieser abgegriffene Teddy.
Seine Sachen lagen weder auf dem Sofa noch auf dem Tisch. Auch nicht auf der flachen Kommode am Fenster. Dort stand lediglich eine Schachtel. Er hob den Deckel. Sie war voller Spitzenunterwäsche. Rasch schloss er die Schachtel wieder, fühlte sich wie ein Spanner. Offenbar wurde es normal für ihn, sich in Barentsburg so zu benehmen.
Wieder versuchte er, sich an Details der letzten Nacht zu erinnern. Wann hatte er sich ausgezogen? Wo könnte er seine Sachen hingelegt haben? Vielleicht unters Sofa? Ja, undenkbar war es nicht. Er ging auf die Knie, beugte sich bis auf den Fußboden. Das Sofa war flach, darunter war es dunkel. Unmöglich, etwas zu sehen. Er streckte seinen Arm so lang aus, wie er konnte.
»Chnuet?« Ihre Stimme war kalt und fremd. »Was machst du in meinem Zimmer und unter meinem Bett?«
Er kam auf die Beine und bürstete sich den Staub ab, der unter dem Bett reichlich lag. »Tut mir sehr leid … die Tür stand offen … ich dachte vielleicht, dass …«
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie war nicht allein. Hinter ihr stand Anton in der Tür, der große Russe, mit dem sie am gestrigen Abend so lange geredet hatte. Er überragte sie und grinste breit und zahnlos. Knut war ziemlich sicher, dass der Riese nur Russisch verstand, wollte aber nichts
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