In meinem kleinen Land
befürchtete, dass auf dem wahrscheinlich unbeleuchteten Bahnhofsplatz kahlköpfige Thüringer Jagd auf äthiopische Dönerverkäufer machen würden. Ich nahm an, dass es in der ganzen Stadt nur eingeschmissene Fenster gäbe und zur Lesung nur übelgelaunte, weil vom Westen benachteiligte Erfurter kämen, die mich mit revanchistischer Genugtuung nach meiner Darbietung steinigen würden. Ich gebe zu: Ich hatte keine Ahnung vom Osten, und meine Vorbildung bestand im Wesentlichen aus dem Konsum von SPIEGEL-TV. Es ist ein Jammer mit uns Deutschen.
Schon vor einem Jahr musste ich feststellen, was auch heute noch gilt: Erfurt ist ein Vergnügen, denn die Stadt wurde zumindest im Touristen sich anpreisenden Kern sehr liebevoll restauriert und wird von auffallend hübschen und freundlichen Verkäuferinnen bevölkert. Enorm der Dom, der, als sei er nicht schon imposant genug, auch noch auf einem Hügel steht, den man gebührend eingeschüchtert über eine riesige Treppe erklimmt.
Oben angekommen, staunt man über das Chorgestühl aus Eichenholz und eine traurig aussehende Figur, die den Diakon Laurentius zeigt. Dieser wurde 258 in Rom getötet, weil er es gewagt hatte, den Kirchenschatz der christlichen Gemeinde von Rom an die Armen zu verteilen. Zur Strafe briet er bei lebendigem Leibe auf einem Rost. Das ist auch der Grund dafür, dass er hier im Mariendom mit einer Art Grillrost in der Hand dargestellt wird. Und das finde ich schon sehr hübsch. Mitten in Thüringen einen Heiligen zu verehren, der auf dem Rost starb. Vielleicht ist er der Schutzheilige der Thüringer Rostbratwürste?
Direkt neben dem Dom befindet sich die kaum weniger imposante Severikirche, die den Verdacht nahelegt, hier hätten zwei Kirchenbauteams um die Wette gebaut. Die Mannschaft Mariendom hat gewonnen, dafür haben sie in der Severikirche einen fünfzehn Meter hohen Taufstein aufgestellt. Gegenüber ragt der Petersberg mit seiner Zitadelle auf. Man hat viel zu erklettern in Erfurt.
Wanderung zurück über den Fischmarkt mit seinem neugotischen Rathaus, an dem sich die Münchner ein Beispiel hätten nehmen können, wenn sie nicht so grauenhaft von ihrer Zuckerbäckerarchitektur überzeugt wären.
Lesung in der alteingesessenen Buchhandlung voller topgelaunter Erfurter. Ich schäme mich für meine West-Borniertheit, die nur durch eine möglichst gute Lesung auszuwetzen ist.
Am nächsten Morgen zum Zug, Richtung Erlangen geht es heute. Und da entdecke ich doch tatsächlich ein Schild im Bretterbudenlabyrinth der Erfurter Bahnhofsbaustelle, das richtig Bock macht. Also, Leute, ich wollte ja keine Ossi- und Wessiwitze machen, aber dieses Schild ist echt ein Elfmeter. Da steht tatsächlich – fünfzehn Jahre nach der Wende – an einer Holzwand: «Achtung! Geänderte Personenführung!»
Erlangen. Was wollen diese Männer von uns?
6. Oktober 2005
Der Ort Saalfeld in Thüringen bezieht seine Existenzberechtigung daraus, dass dort ein ICE-Bahnhof steht. Jedenfalls scheint es so, denn außer dem Bahnhof und einem Taxistand gibt es hier auf Anhieb nichts zu sehen. In Saalfeld steigen die Reisenden aus, die anschließend weiter nach Erfurt oder Weimar oder Ilmenau wollen. Hier wartet menschliches Treibgut auf Regionalzüge. Ich warte ebenfalls, bin aus Erfurt abgefahren und mit Verspätung in Saalfeld gelandet, wo ich in den ICE umsteigen wollte. Natürlich war der schon weg, denn der wartet nicht auf Regionalnachzügler, die bei Arnstadt ohne erkennbaren Grund eine Viertelstunde lang herumgestanden haben. Der nächste Zug geht erst in zwei Stunden, und solange kann ich mir die Zeit auf dem Bahnhof von Saalfeld vertreiben, der ungefähr denselben Freizeitwert hat wie das Kurzwellenzentrum von Jülich.
Ich frage einen Bahnpolizisten, wo man sich denn nett hinsetzen könne, und er deutet auf eine Bahnhofskneipe, aus der heiseres Gelächter und Hundegebell dringt, und sagt: «Da jäd’nfalls nich. Gann ich Ihn’n nich empfehl’n.» Ich frage ihn, was er denn empfehlen könne, und er deutet den Gang hinunter. «Da gib’s Döner un daneb’n die Bäggerei, da gannman güt sitz’n.» Die Bäckerei trägt den geradezu zynischen Namen «Wiener Feinbäckerei». In Wahrheit handelt es sich um einen Stehausschank mit Blechkuchen und sogenannten «ofenfrischen» Backwaren, was nicht gelogen ist, aber nichts mit dem zu tun hat, was man sich darunter vorstellt. Denn in Wirklichkeit bedeutet «ofenfrisch» nichts anderes, als dass Fertigprodukte von
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