In meinem kleinen Land
aus der ganzen Welt hierherkommen, um zu lernen, wie man Bier macht. Insofern ist Freising eine Art Mekka, nicht nur für Katholiken, die vor der verschlossenen Domtür stehen.
Freising ist eine reiche Stadt. Sie präsentiert sich ganz gehörig herausgeputzt. Arbeitslose gibt’s hier kaum, nur knapp drei Prozent, die entweder ehrlich unvermittelbar sind oder asozial. Aber das ist okay so, total in Ordnung, eine Quote, die sich eine Gesellschaft mühelos leisten kann. Der Kanzlerkandidat Edmund Stoiber hat damals im Wahlkampf 2002 mit Freising angegeben wie eine Tüte Mücken. Im TV-Duell mit Kanzler Schröder präsentierte er Zahlen und Fakten und wies darauf hin, dass Freising, das bayerische Freising, ja: Freising in Bayern, das demnach unter seiner, Stoibers, Regentschaft stehende Freising praktisch ein Paradies der Vollbeschäftigung sei. Schröder wischte die Begeisterung des bayerischen Ministerpräsidenten über Freising, die in Wahrheit eine Begeisterung über sich selber war, mit der lapidaren Entgegnung fort, man wolle heute doch nicht über Freising reden. Er hätte auch sagen können: «Jungchen, Freising ist nicht Deutschland. Und du bist auch nicht Deutschland.» Wenigstens mit der Hälfte dieses Satzes hätte er recht gehabt, denn natürlich lässt sich Freising nur sehr schlecht mit – sagen wir mal – Unna vergleichen. Freising profitiert nämlich enorm von seiner Nähe zum Franz-Josef-Strauß-Flughafen. Das ist der größte Arbeitgeber in der Gegend, und er wird immer größer. Es besteht aber momentan nicht die Gefahr, dass die Stadt Freising eines Tages einer neuen Start- und Landebahn weichen muss.
Nach der Lesung fahre ich nach Hause, es sind nur ungefähr achtzig Kilometer. Ich werfe meine Sachen in die Wäsche und gehe ins Bett. Der Traum, den ich in dieser Nacht träume, ist so merkwürdig, dass ich ihn lange nicht vergesse.
Ich muss in einem riesigen Hörsaal lesen. Vorher werden Eröffnungsreden gehalten. Otto Schily spricht. Dann trete ich ans Rednerpult und stelle fest, dass ich kein Manuskript dabeihabe. In der ersten Reihe sitzt eine italienische Großfamilie und unterhält sich laut. In meiner Tasche entdecke ich mehrere Kilo in Klarsichtbeutel eingeschweißten gemahlenen Kaffees. Ich schütte das Pulver in eine herkömmliche blaue Kaffeemaschine, die auf dem Rednerpult steht, und sehe zu, wie dort, wo eigentlich der Kaffee herausblubbern sollte, mein Manuskript heraustropft. Ich halte ein leeres Blatt unter die Maschine und lese meinen Text quasi brühwarm vor. Da ich nach jeder Seite den Kaffeefilter wechseln und Kaffee nachschütten muss, ergeben sich zwangsläufig Pausen, die vom Publikum nur mit Murren ertragen werden. Nach der dritten Seite breche ich ab und wache vor lauter Unmut auf.
Pforzheim. Stadt ohne Fachwerk
10. Oktober 2005
Montag. Weiter geht’s. Ich bin nun ein Profi-Reisender. Ich weiß, wo man sich im ICE hinsetzt. Ich kenne die Speisekarte, ich wundere mich nicht mehr über Intercity-Bahnhöfe wie Plochingen, wo zwar jeder Zug hält, aber niemand zu wohnen scheint. Ich bin ein lebendes Gepäckstück, das am Abend zum Leben erweckt wird, zwei Stunden spricht und sich anderntags selbsttätig zum Bahnhof bringt.
Die neue Woche beginnt in der Uhren- und Schmuckstadt Pforzheim. Das liegt am nördlichen Rand des Schwarzwaldes, fast genau in der Mitte zwischen Karlsruhe und Stuttgart. Hat über 100 000 Einwohner und ist nicht nur bekannt für seine Schmuck- und Versandhausindustrie, sondern auch für ein total uneinheitliches Stadtbild. Das kommt daher, dass Pforzheim rekordverdächtig zerbombt und anschließend recht planlos wieder aufgebaut wurde. Dabei haben sie naturgemäß nicht alles richtig gemacht, es wurde sogar sehr viel Unsinn getrieben, aber anders als in Krefeld oder Kassel. Pforzheim besitzt nämlich tatsächlich gerade dadurch einen eigentümlichen Reiz.
Schon beim Hindurchfahren erkennt man, dass hier jeder Baustil der vergangenen fünfzig Jahre exzessiv erprobt wurde. Im Guten wie im Schlechten. Pforzheim ist auf diese Weise ein Panoptikum bundesrepublikanischer Modernität. Und die sieht ja nicht nur schrecklich aus. Wem also die Fachwerkfolklore von Bamberg und der niedliche Restaurationseifer von Erfurt zu viel sind, der sollte einfach mal nach Pforzheim fahren. Die Ankunft dort beschert einem den Anblick des Nick-Knatterton-Gedächtnis-Bahnhofes. Ein wunderschönes Stück Fünfziger-Jahre-Architektur, das gewiss unter Denkmalschutz
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