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In meinem kleinen Land

In meinem kleinen Land

Titel: In meinem kleinen Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
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Bahnhöfen den Durchsagen lauschen. Das ist eine ganz eigentümliche Art von Lyrik. Da heißt es zum Beispiel, ein Zug fahre aus Gleis zehn. Aus. Früher fuhren die Züge immer von einem Gleis ab, aber jetzt fahren sie aus einem Gleis. Und damit nicht genug. In der Zeitung sehe ich Werbung für die Taschenbuchausgabe eines Werkes von Frank Schirrmacher. Und da steht: «Erstmalig im Taschenbuch.» Hä? Warum denn nicht «erstmalig als Taschenbuch»? Vielleicht klingt «im» irgendwie hochwertiger. So, als habe man das gebundene Buch in einem Taschenbuch verpackt. Eingeschlagen, wie alte Verkäuferinnen sagen. Ich esse Weingummi – erstmalig von der Tüte.

Langen. Wenn ich an Bratensülze denk
    14. November 2005
    Langen liegt bei Frankfurt. Im Fünfzehn-Minuten-Takt fährt von dort die Bahn, und die braucht zwanzig Minuten. Damit ist alles Wesentliche gesagt. Und doch blickt man staunend auf das Bild vom Schnellbahnnetz der S-Bahn Rhein-Main, denn die Stadt Langen weiß den Reisenden mit einem Ortsteil zu verblüffen, der «Langen-Flugsicherung» heißt und genauso aussieht, wie man sich das vorstellt. Inmitten von Langen-Flugsicherung steht ein Hotel. Es ist wie vieles in und um Frankfurt sehr amerikanisch. Man bekommt hier an vielen Orten das Gefühl, in einem leicht europäisierten Amerika zu sein.
    Die Türen in diesem Hotel öffnet man mit Drehknäufen. Es gibt Ventilatoren auf den Zimmern, und das Restaurant-Interieur deutet kulissenartig die amerikanischen vierziger Jahre an, an den Wänden hängen Fotos von amerikanischen Flugzeugen und -pionieren. Neben dem Aufzug befindet sich eine Tür, und auf der Tür haben sie ein Schild befestigt, darauf steht: «Hinter dieser Tür verbirgt sich, was wir hier im Hause am meisten schätzen.» Das macht natürlich neugierig. Was wohl hinter dieser Tür sein mag? Die Umwälzpumpe eines Aquariums? Ein Zimmermädchen mit behaarten Unterschenkeln? Ein Schild mit der Aufschrift «Betreten verboten»? Ich schaue mich zweimal um, ob mir jemand zusieht, und dann öffne ich die Tür. Dahinter befindet sich ein Spiegel. Im ersten Moment denke ich: «Aha, dass, was die am meisten an ihrem Haus schätzen, ist also ein Spiegel.» Erst als ich im Aufzug stehe, verstehe ich, dass ich, also das Spiegelbild, gemeint bin. Da werde ich vor Rührung ganz weich. Auf der Klaviatur der Gefühle zu spielen, haben die Amis echt raus.
    Die Lesung findet heute in einer kleinen, aber rührigen Buchhandlung statt. Anschließend sitze ich im Hotelrestaurant und entscheide mich nacheinander für drei Gerichte, die leider aus sind. Schließlich kann ich zwischen einem Nudelgericht und Bratensülze wählen und entscheide mich für die Nudeln.
    Wir müssen mal über Bratensülze reden. Immer, wenn ich an Bratensülze denke, was nicht allzu oft geschieht, denke ich sofort an Horst Ehmke, den berühmten alten SPD-Politiker. Horst Ehmke gehört zu einer Generation, die noch gerne Bratensülze isst, aber sowohl in der Politik als auch in der Küche allmählich auf dem Rückzug ist. Von Horst Ehmke weiß ich übrigens ganz genau, dass er Bratensülze isst, weil ich es selbst gesehen habe. Und das war so:
    Als ich noch aufs Gymnasium ging, fing ich als freier Mitarbeiter bei der «Westdeutschen Zeitung» an, natürlich im Lokalteil. Einmal musste ich auf eine SPD-Veranstaltung in eine Kneipe mit Saal in Meerbusch-Büderich. Dort sprach und diskutierte also Horst Ehmke, das muss so zwanzig Jahre her sein. Ich fand es grauenhaft, dass diese öden Juso-Typen den Ehmke einfach duzten, weil sich Genossen in der SPD immer duzen dürfen, auch wenn der eine Minister ist und der andere Ministrant. Eigentlich ist das unanständig und respektlos, aber die SPD-Mitglieder in der mehrheitlich von CDU-Wählern bewohnten Stadt Meerbusch fanden das nicht und sagten auch noch «Genosse Ehmke» zu dem armen Mann. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie alle ein Schrankenwärtermützchen aufgesetzt und mit ihm eine Polonaise getanzt hätten.
    Nach der Veranstaltung sah ich Horst Ehmke mit seinem Fahrer in der Kneipe sitzen. Ich fragte ihn, ob ich ihm vielleicht die eine oder andere Frage stellen dürfe, und er sagte: «Setzen Sie sich. Ich muss bloß vorher noch etwas essen.» Ich setzte mich, und dann bekam Horst Ehmke einen Teller mit Bratensülze und Bratkartoffeln und dazu ein Glas Altbier. Ich sah ihm schweigend zu, bis er aufgegessen hatte, und stellte dann meine Fragen. Ich kann mich an keine einzige erinnern und auch

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