In meinem kleinen Land
wir damals.
Im Hotel lege ich mich ins Bett, es ist Nachmittag, was soll ich sonst auch machen. Man hat mich weit draußen am Rande der Stadt einquartiert. Der obligatorische Marsch durch Kirchen und Fußgängerzonen fällt damit aus. Schneeregen. Von der Bochumer Universität wird behauptet, dass es in ganz Deutschland keine Hochschule gebe, an der sich mehr Studenten umbringen. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber es passt zum Wetter. Das verhindert nach der Lesung auch glanzvolle Aktivitäten im Bochumer Nachtleben. Ich esse noch Chili con Carne aus der Hotelbar-Mikrowelle und trinke dazu Bier. Habe mir mein Leben insgesamt feierlicher, imposanter und auch von tieferen Erkenntnissen durchdrungen gewünscht. Aber es ist bloß ein normales Bochumer Hotelleben. Keine besonderen Vorkommnisse.
Am nächsten Morgen fahre ich mit dem Taxi nicht zum Bochumer Bahnhof, sondern gleich die dreißig Kilometer durch bis nach Ennepetal. Ich habe irgendwie keine Lust auf Zug. Als ich im Hotel den Koffer aufklappe, stelle ich fest, dass ich meinen iPod in Bochum habe liegenlassen. Und ich bemerke, dass ich seit einigen Tagen außer bei den Lesungen praktisch kein Wort mehr mit jemandem gewechselt habe. Vereinsamung. Draußen schneit’s.
Ennepetal. Auf der langen Reise zu mir selbst (nach Hause)
26. November 2005
Ennepetal liegt bei Wuppertal, wo Johannes Rau herkommt. Der hat Buchhändler gelernt. Wenn es in seinem Leben anders gelaufen wäre, hätte es passieren können, dass ich in der Buchhandlung Rau aufgetreten wäre. Der Seniorchef hätte mich begrüßt und spätestens nach zwei Minuten damit begonnen, Witze zu erzählen. Johannes Rau ist ein weltweit gefürchteter Witzeerzähler. Im Moment ist Witze-Saison, denn wir befinden uns im Karneval.
Johannes Rau hat keine Buchhandlung und erst recht nicht in Ennepetal, einem Ort, der mir etwas seltsam vorkommt, denn er gehört zwar zum Ruhrgebiet, hat aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem Pott. Hügelig und bewaldet ist es hier, Talsperren überall und ungeahnte Mengen von Herbstlaub. Es dauert auch eine Weile, bis ich merke, dass ich überhaupt nicht in Ennepetal bin.
Das Hotel, in dem ich, meinem Reiseplan sklavisch folgend, eingecheckt habe, befindet sich nämlich keineswegs, wie von mir angenommen, im Zentrum von Ennepetal, sondern in einem weit davon entfernten Ortsteil. Später wird mir mitgeteilt, dass Ennepetal elf Stadtteile habe. Auf meinem Spaziergang über allmählich vereisende Gehwege bemerke ich das aber nicht und wundere mich über das Fehlen auch noch der geringsten städtischen Infrastruktur in diesem Ennepetal. Die Lesung findet angeblich in der Stadtbücherei statt, aber diese präsentiert sich unbeleuchtet und geschlossen. Wollen die mich veräppeln, diese Ennepetaler?
Verunsichert rufe ich die Veranstalterin bei der Stadtbibliothek an und erfahre, dass ich weit, weit weg vor einer Zweigstelle stehe. Ich rufe mir ein Taxi und treffe mit viertelstündiger Verspätung im «Haus Ennepetal» ein, wo sich Bücherei und Jugendzentrum befinden. Die heutige Lesung wird von der Bücherei und dem Gymnasium von Ennepetal veranstaltet, genauer gesagt von einem Deutsch-Grundkurs der Jahrgangsstufe elf und dessen Lehrer. Der Kurs hat eine Bühne dekoriert, für die Pause ein Büfett vorbereitet und in der Bücherei eine Bar eingerichtet. Auf der Bühne kommt es zunächst zu einer Spielszene. Ich soll in einem nach gängiger deutscher Inszenierungspraxis schwach angedeuteten Café sitzen und dort mein eigenes Buch lesen. Dann kommen eine Schülerin und ein Schüler ins Café und erkennen mich. Sie setzen sich an einen Nebentisch und verwickeln mich total zwanglos in ein Gespräch, in dessen Verlauf sie mir Fragen stellen. Zum Beispiel die, wie ich in der Schule gewesen sei. Auch möchten sie wissen, wie man ein Buch schreibt und warum und so. Ich gebe bereitwillig Auskunft. Pause. Essen und trinken. Dann lese ich.
Der Lehrer bringt mich zu meinem Hotel. Die Straßen leuchten weiß, eigentlich orange, denn sie reflektieren das Licht der Ennepetaler Straßenlampen. Es ist glatt, und ich lege mich beinahe lang, als ich vor dem Hotel aussteige. Der Wind wirft winzige scharfe Nadeln wie Dartpfeile durch die Luft, mein Gesicht ist das Bull’s-eye (fünfzig Punkte jeder Treffer). Plötzlich ist diese Kälte da. Sie hat sich in der vergangenen Woche ein paarmal angekündigt, aber ich hatte sie nicht ernst genommen, in ihr keinen Vorboten für den Winter gesehen, es war noch
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