In meinem kleinen Land
viel zu früh dafür. Winter ist doch sonst erst kurz vor Weihnachten, wenn überhaupt.
Auf dem Zimmer sehe ich mir im ZDF an, was meine Landsleute für das beste deutsche Lied halten. Das Ergebnis ist erschütternd, zu niederschmetternd, um es hier zu nennen. Ich bekomme es einfach nicht getippt.
Nachts um halb fünf fängt mein Tag an. Es wird einer der längsten meines Lebens. Er beginnt mit lautem Hupen, das ich für einen akustischen Bestandteil meiner Träume halte, bis ich die Augen öffne. Dann Geschrei. Zwei Männer streiten sich unterm Fenster. Ich stehe auf, sehe hinaus. Alles weiß, weißer, am weißesten. Einer kommt nicht mit dem Auto durch den Schnee und ein anderer nicht an ihm vorbei. Da muss man natürlich wie bescheuert hupen. Da muss man sich anbrüllen. Ich schlafe danach nicht mehr ein.
Um acht gehe ich zum Frühstück und lasse gleichzeitig ein Taxi rufen. Mein ICE Richtung Heimat fährt um 9.14 Uhr ab Wuppertal. Eine Stunde, das müsste doch hinhauen, um mit dem Taxi zum Bahnhof Ennepetal und von dort mit dem Zug nach Wuppertal zu kommen. Denke ich.
«Sie sind ja witzig», sagt die Frau an der Rezeption. Und dass keine Züge führen. Und keine Busse. Und ob ich mal rausgeguckt hätte. Und es sei überhaupt nur das Technische Hilfswerk unterwegs. Trotzdem ruft sie bei der Taxizentrale an, und es nimmt auch jemand ab. Die Taxifrau sagt, sie käme, aber sie wüsste nicht, wann. Irgendwann halt.
Ich finde das okay, denn wenn die Züge sowieso nicht fahren, ist mir auch egal, wann ich am Bahnhof bin. Die anderen Hotelgäste bleiben noch, denn ihre Autos sind eingeschneit. Alles Männer. Handlungsreisende. Einer, der auf einer Autoteile-Messe war. Kumpelton. Kaffee. Rausgucken und Radio hören. Das schweißt zusammen.
Die Taxifahrerin erscheint gegen Viertel vor neun. Sie hat ein rasselndes Lachen, eine Kettenraucherstimme. Kaffee und Zigaretten. Geschnittenes Brot. Wachstuchdecke. Bodenständig, sagt man. Sie sieht von der Seite aus wie mindestens drei Leben. Ständig klingelt ihr Handy, und jedes Mal sagt sie auf dieselbe geschäftige und freundliche Art: «Ihr Taxi in Ennepetal», um dann zu melden, dass sie auf dem Weg nach Wuppertal sei und danach den Fahrbetrieb einstellen würde. Es sei kein Durchkommen, nein, leider nicht. Danke sehr, auf Wiederhören.
Einmal ruft ihr Mann an und spricht schwerverständlich davon, dass sie ihren Haustürschlüssel vergessen habe. Hinterher sage ich Doofmann: «Irgendwie kann man Ihren Mann ja nicht so richtig doll verstehen. Nuschelt der immer so?»
«Der kann nicht mehr sprechen, das halbe Gebiss ist weg.» Sie sagt das nicht als Vorwurf an mich. Sie sagt es ganz ruhig, als spräche sie über jemanden, den sie nur flüchtig kennt. Ich entschuldige mich für meine Taktlosigkeit.
«Macht nix. Ich versteh den ja selber manchmal kaum.»
«Was hat er denn?»
Natürlich: Krepps.
Sie haben ihn dreimal operiert, und jedes Mal ist es schlimmer geworden. Die Schleimhäute sind vollständig zerfressen. Bis vor einiger Zeit hat er noch helfen können, auch mal was tragen. Jetzt kann er nicht mal mehr staubsaugen. Da hat sie ihm noch das Essen püriert, inzwischen bekommt er seine Nahrung über eine Magensonde. Er wiegt noch fünfundfünfzig Kilo, und das, wo er früher so ein Kawenzmann war, ein richtiger Kraftprotz. Sie sagt, er sei achtundvierzig Jahre alt. Sie sind schon sehr lange zusammen.
«Und jetzt? Besteht noch Hoffnung?», frage ich.
«Wir warten jetzt», antwortet sie. Sie sagt das so, dass man nicht auf die Idee kommt, zu fragen, worauf.
Die Polizei steht in den Autobahnauffahrten. Keiner soll mehr rauf. Im Radio hören wir, dass es in manchen Gegenden keinen Strom gibt. Die Taxifahrerin ist nett zu mir. Wenn sie nicht wäre, käme ich erst morgen nach Hause. Sie fährt, so schnell und gut es geht. Trotzdem erreichen wir den ICE nicht. Wir sind erst um zehn Uhr am Bahnhof. Fünfundsiebzig Minuten für vielleicht fünfzehn Kilometer. Sie fährt nach Hause. Ihr Mann wird ihr einen Kaffee machen und ihr die Tasse ins Wohnzimmer bringen. Sie wird sich die Füße massieren und sagen: «Heute bleibe ich zu Hause.»
Ich nehme einen ICE nach Köln. Dort warte ich auf den nach Mannheim. Mit mir warten ungefähr dreihundert Menschen am Bahnsteig. Der ICE wartet ebenfalls, und zwar hundert Meter weiter. Worauf er wartet, weiß niemand. Dann nähert er sich und hält, aber die Türen werden nicht geöffnet. Hunderte Menschen stehen in der Kälte.
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