In meinem kleinen Land
der Mann in der Tür. Er starrte uns an. Er sagte die Worte, die ich nicht vergessen kann, denn es klang so viel Enttäuschung darin mit. Menschliche Enttäuschung. Er sagte: «Ihr seid richtige kleine Arschlöcher.» Dann ging er weg. Mein Gott, war das peinlich. Ich bin sicher, dass er nie wieder einen Rollstuhl samt Inhalt in den ersten Stock getragen hat. Bitte, lieber Mann, entschuldige.
Wieder Lesung in einer Stadtbücherei. Fröhliche Dortmunder sitzen auf Bierbänken, was mir leidtut. Auf Bierbänken kann man nicht die ganze Dauer einer Lesung schmerzfrei sitzen. Die haben morgen alle Rückenschmerzen. Anschließend signieren. Viele Weihnachtsgeschenke heute Abend. Es sind nur noch knapp dreieinhalb Wochen bis Heiligabend.
Iserlohn. Beinahe im Nichts
29. November 2005
Ich bin ja der Auffassung, dass es immer irgendwas zu erzählen gibt. Es ist völlig unmöglich, dass einem Menschen an einem Tag wirklich gar nichts passiert. Selbst ein den ganzen Tag meditierender Yogi wird abends beim Bier im Pilspub etwas zu berichten haben – und sei es nur, dass sich ein Schmetterling auf seinen Fuß gesetzt hat. Irgendwas ist immer. Außer heute.
Ich komme mit dem Zug aus Dortmund, was als Reise schon wegen der kurzen Fahrzeit nicht erwähnenswert ist, und nehme auf dem vollkommen runtergekommenen Bahnhof von Iserlohn ein Taxi. Auf mein Stichwort («Und? Wie ist denn Iserlohn so?») beginnt der Fahrer wüste Verwünschungen gegen seine Heimatstadt auszustoßen. Das sei hier alles Schrott, sagt er. Alles im Arsch, nicht einmal die Straßen würden nachts so richtig beleuchtet. Wo man denn abends hinginge, frage ich. Er zeigt auf ein Kino und sagt, dass dort alle abhingen, da sei der «Apfelbaum» drin, eine Kneipe. Nur besoffene Blagen seien da, schimpft er. Überhaupt sei Iserlohn das Letzte. Schuld daran seien nicht nur, aber auch die Ausländer. Er kann sich gar nicht mehr beruhigen. Der Umgang mit Taxifahrern ist nicht immer angenehm, aber besonders dann nicht, wenn man neben einem sauerländischen Vulkan sitzt.
Tatsächlich hat es Iserlohn nicht leicht, denn sie ist zwar die größte Stadt des Sauerlands, aber richtig groß ist sie dennoch nicht: Ab 100 000 Einwohner darf man sich Großstadt nennen, und Iserlohn liegt knapp darunter, kann also nur behaupten, beinahe groß zu sein, was viel schlimmer ist, als klein zu sein.
Das Hotel finde ich eingedenk der Anreise überraschend schön, und das Personal trotzt dem Iserlohner Schicksal städtischer Agonie mit ganz ungewöhnlicher Freundlichkeit.
Jede Woche auf meiner Reise war die Woche von irgendwas. Es gab die Wahlwoche, die Koalitionswoche, die Heiserkeitswoche und die Ferienwoche. Was für eine Woche gerade ist, habe ich noch nicht entschieden. Es gibt drei Möglichkeiten: die Wintereinbruchswoche, die Regierungserklärungswoche oder die Woche der Geiselnahme. Heute ist der Tag des Nichts in der Woche nach dem Gammelfleisch.
Von einer Sache muss man aber doch berichten. Das Publikum in Iserlohn. Die Leute sind so was von anders als die beinahe große, unbeleuchtete, gequälte Stadt, dass man es nicht glauben kann. Sie sind heiter, offen, modern. Sie passen gar nicht hierher, oder mein Iserlohn-Bild ist grundfalsch. Wie dem auch sei, am Ende hatte der Tag doch ein besonderes Ereignis: Menschen.
Hagen. Kein Wagen in Hagen
30. November 2005
Manchmal wache ich auf und weiß nicht, wo ich bin. Also nicht nur, in welcher Stadt ich mich befinde, ist mir unklar. Ich weiß auch nicht, in welcher Richtung ich aus dem Bett steigen muss, um ins Bad zu kommen. War das Bad nun rechts oder links. Ach so, links war es in Dortmund, heute ist es auf der rechten Seite. Und was ist das da geradeaus für eine Tür?
Und wie spät ist es? Ich verliere jetzt öfter die Orientierung. Manchmal muss ich in meinem Reiseplan nachsehen, wo es als Nächstes hingeht. Ich zeige geistige Auflösungserscheinungen. Ich bin immer noch in Iserlohn, vielleicht liegt es daran.
Heute muss ich nach Hagen. Dort übernachte ich aber nicht, denn ich will nach der dortigen Lesung noch weiterreisen. Ich nehme daher ein Iserlohner Taxi und lasse mich zur Autovermietung Sixt bringen. Der Mann am Schalter ist sehr unangenehm überrascht von meiner Absicht, bei Sixt ein Auto zu mieten. «Autos haben wir nicht», sagt er. Aber das sei doch eine Autovermietung, insistiere ich. Daraufhin bietet er mir einen Kleinlaster an und weidet sich an meiner Verzweiflung. Sie hätten eigentlich nie
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