In meinem kleinen Land
Erkenntnis mit einer Frage, die ich nicht beantworten konnte. Mein Wissen fiel sogleich in sich zusammen und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Die SPD-Kandidaten auf dem Wahlplakat sehen jedenfalls aus, als wollten sie mir folgende Frage stellen: «Von zwanzig Fuldaer SPD-Kandidaten sind sechzehn männlich und vier weiblich. Neun der männlichen Kandidaten tragen eine Brille, zehn tragen einen Bart. Drei der vier weiblichen Kandidaten tragen eine Brille, alle vier eine unmögliche Frisur. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine der Personen auf dem Plakat a) eine Brille, b) eine Brille und einen Bart, c) eine Brille, einen Bart und eine unmögliche Damenfrisur trägt. Ermitteln Sie die Wahrscheinlichkeiten für a), b) und c). Lassen Sie Damenbärte dabei außer Acht. Fertigen Sie dazu eine Skizze an.
Die Skizze wäre für mich die einzige Chance, bei dieser Aufgabe wenigstens einen einzigen kümmerlichen Punkt zu erringen.
Die Fuldaer sind ein interessantes Völkchen. Vielleicht ist es Zufall, aber ich begegne heute Abend niemandem, der so richtig ernsthaft Dialekt spricht.
Ich berichte von dem SPD-Wahlplakat. Als ich nach der Lesung meine Sachen zusammenpacke, kommt eine der Buchhändlerinnen auf mich zu und sagt: «Das ist wirklich gespenstisch. Mein Mann ist auch auf dem Plakat. Und er ist Mathelehrer.» Ich nehme das einfach mal als Kompliment.
Im Hotel lese ich noch ein bisschen. Ein Theaterkritiker wurde bei einer Premiere von einem Schauspieler beleidigt und gibt dazu ein Interview. Man habe ihm den Spiralblock entrissen. Das habe wehgetan. Die Verletzungsgefahr sei erheblich gewesen. Da muss ich doch sehr lachen.
Gießen: Der Mensch ist Mensch, weil er schläft und weil er zahlt
21. Februar 2006
Grönemeyer-Wetter. Das ist das Wetter, das in Videoclips deutscher Interpreten immer wieder Verwendung findet. Zum Beispiel bei Grönemeyer. Regentropfen am beschlagenen Fenster. Finger malt Muster an die Scheibe. Wessen Finger? Das bleibt offen. Ihr Finger, wahrscheinlich.
Dahinter ist eine Stadt zu sehen. Grauer Himmel. Schnitt, dann schwarze Pfützen, in denen sich Plattenbauten spiegeln. Ja, so ist sie, die sogenannte bundesrepublikanische Wirklichkeit. Man sieht auch Menschen, wie sie in hässlicher Kleidung still und ernst durch die Szene laufen. Jaja, der Mensch ist ein Mensch, weil er pupt und weil er leidet und sich fügt in sein Dasein zwischen Hartz IV und DSDS. It’s a Grönemeyer-Welt. Oder eine Xavier-Naidoo-Welt. Heute auf jeden Fall.
Manchmal fragt man sich, warum bei uns in Deutschland nicht viel mehr Menschen durchdrehen. Es ist eine schwierige Welt. Alles so kompliziert. Und trotzdem funktionieren die meisten Menschen unauffällig und auf eine gespenstische Weise tadellos. Vielleicht, weil sie glücklich sind, oder weil sie sich darüber keine Gedanken machen. Verhältnismäßig selten dringt der Horror an die Oberfläche und erinnert uns daran, dass es bei uns auch so etwas wie eine seelische Verwahrlosung gibt: Am heutigen Tag werden Eltern verurteilt, die jahrelang an einer kaputten und zum Esstisch umfunktionierten Tiefkühltruhe gegessen haben, in der ihr totes Kind lag. Sie haben es ironischerweise verhungern lassen.
Anderswo steht einer vor Gericht, weil er als Pfleger alte Menschen umgebracht hat. Komisch: Seine Taten fielen nicht etwa dadurch auf, dass die Leute tot waren, sondern durch den hohen Bedarf und das Verschwinden von Schlafmitteln in der Klinik. Nachrichten, die einen an der Welt verzweifeln lassen.
Noch eine: Die Kinder sind überschuldet. Offenbar bringt ihnen auch niemand mehr bei, wie man mit seinem Geld umgeht. Der Staat fällt als moralische Instanz wie so oft aus: nimmt zweihundert Milliarden ein und gibt zweihundertsechzig Milliarden aus. Die Vogelgrippe tobt im Norden, die BILD sorgt sich, ob die Fußball-WM ausfällt. Der Regionalzug schleppt sich durch die hessische Provinz, Grönemeyer-Video-Wetter.
Die Stadt Gießen kann meine heutige Stimmung nur schwer heben. Das liegt vor allem daran, dass sie hässlich ist, wofür sie nichts kann. Dieser Scheißkrieg mal wieder. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, könnte man in Deutschland schönere Musik-Videos drehen.
Ich bitte den Taxifahrer, mir zu erklären, wo wir entlangfahren. Er sagt: «Die Johanneskirche. Daneben ein Grünstreifen, wo tagsüber immer die Penner und Arbeitslosen rumhängen.» Wir passieren ein Hochhaus, in welchem sich ein hellerleuchtetes Dachcafé befindet. Er sagt: «Das
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