Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In meinem kleinen Land

In meinem kleinen Land

Titel: In meinem kleinen Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
Vom Netzwerk:
Weite auch kein Wert an sich. Sonst würde es die Russen zu Millionen in die Tundra ziehen, was aber nicht der Fall ist. Und was die Engstirnigkeit angeht, so kann man die ja auch menschlich finden – und sich ein bisschen darüber wundern, vielleicht lächeln. In anderen Ländern, zumal europäischen, sind die Lebensbedingungen in Wahrheit auch nicht besser als bei uns. Deutschland ist nicht spießiger als der Rest der Welt. Und was wäre die Alternative zu unserer Free-and-easy-christmas-set-Heidi-Klum-H & M-Tchibo-Hiddensee-Kännchen-Schnee-Beckmann-Erzgebirgsschnitzerei-Media-Markt-Gesellschaft? Wo soll man denn sonst hin? Sorry, aber wir gehören hierher. Das ist Deutschland, und wir sind Deutsche. Wir haben uns dieses Land so gemacht, wie es ist. Jammern gilt nicht.

    Eine große Marke Deutschlands: VW. Wolfsburg ist Volkswagen. Die Stadt wirkt, als habe sich am Fuße einer Heeressiedlung ein Dorf ausgebreitet. Man kann von dieser 130   000 Einwohner zählenden Stadt nicht behaupten, dass sie einen besonderen Charme versprühe. Leider gar nicht. Wolfsburg ist im Schatten des runden VW-Emblems nicht erblüht. Es ist vielmehr ein zweckmäßiges Aneinander von flachen Gebäuden. Alles irgendwie ein einziger gigantischer Getränkemarktparkplatz. Das Glamouröseste an Wolfsburg ist eindeutig der Name der Fußgängerzone: Porschestraße. Diese FuZo haben sie mit braunen pilzartigen Gebäuden bestückt. Auf einer Luftaufnahme sieht das so aus, als würde etwas Bösartiges auf leberwurstfarbener Haut ausbrechen. Das Bild hängt in einem italienischen Restaurant, in dem ich nachmittags esse.
    Hier gibt es wahnsinnig viele Italiener. Es fällt richtig auf. Sie sind schon seit vier, manche sogar seit fünf Jahrzehnten hier. Sie haben oben im Werk gearbeitet. Wolfsburg wird durch den Mittellandkanal zweigeteilt. Nördlich davon erstreckt sich Kilometer um Kilometer VW. Südlich des Kanals liegt die Stadt. Über den Mittellandkanal führt die Berliner Brücke. Wer früher darüber fuhr, konnte die gleichnamige Siedlung sehen. Da haben sie die Italiener eingepfercht. Sie haben Stacheldraht herumgezogen, damit niemand zu ihnen konnte, wie es hieß. Klingt sehr nach antifaschistischem Schutzwall. Und sie haben eine Straße gebaut, die führte aus der Siedlung direkt in die Autofabrik. Die Baracken haben sie längst abgerissen. Heute steht dort die Volkswagen-Arena. Es gibt dort Fußball und Elton John.
    Die Italiener sind geblieben. Jetzt sind sie deutsche Rentner, wie mein Schwiegervater. Sie stehen an einem Brunnen in der Fußgängerzone und diskutieren. Der Brunnen ist übrigens sehr hübsch. Am Rand stehen ein paar bronzene Seehunde, die sich nach Fischen recken, die ihnen von einem unsichtbaren Zoowärter zugeworfen werden. Sehr schön, diese Skulpturen. Aber halt! Seit wann haben Seehunde Beine? Ach so, das sind gar keine Seehunde, das sind heulende Wölfe. Da hat sich die Kunst echt mal was an Freiheit rausgenommen. Schön sind die Wölfe dennoch. Man kann ihnen über den glatten Rücken streicheln, was viele Wolfsburger im Vorbeigehen machen. Wenn man über die Porschestraße hinausgeht, kommt ein windiger Platz von unnatürlicher Größe mit Rathaus und Museum. Sieht ein wenig nach sozialistischem Stadtplanungsgepränge aus. Also lieber zurückmarschieren.
    Wenn Zustand und Ästhetik eines Ortes etwas über den Reichtum seiner Bürger aussagen, dann muss man konstatieren, dass die Wolfsburger zu wenig Geld haben. Sie verdienen nicht genug. Wer viel verdient, der kauft sich teure Sachen und möchte in einer schönen Stadt leben. Das bedeutet: Volkswagen muss die Löhne und Gehälter verdoppeln. Mindestens. Sonst wird das nie was mit diesem Wolfsburg. Wer an zwanzig gefeuerte Manager siebzig Millionen Euro Abfindung latzen kann, der kann auch einem Schichtarbeiter sechstausend Euro Lohn zahlen.

    Die Lesung findet in einem künstlich beleuchteten Einkaufszentrum mitten in der Fußgängerzone statt. In dieser Galerie genannten Konsumhöhle befinden sich alle Ketten und Filialisten, die unser Land mit Einheitsware betäuben. Ich lese vor einem sehr angenehmen Publikum. Die Wolfsburger Gastarbeiter aus Sardinien und Sizilien zeugten Kinder, und diese Kinder sind heute schöne Frauen. In Städten wie Wolfsburg kommen sie zu meinen Lesungen und quietschen vor Vergnügen, wenn ich ihre Väter nachahme.

    Was macht man anschließend in Wolfsburg? Was machen wohl die Spieler vom VFL abends? Sie gehen womöglich ins

Weitere Kostenlose Bücher