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In Nomine Mortis

In Nomine Mortis

Titel: In Nomine Mortis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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demütig, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Arm war
     er, aber ehrbar. Er war ein Lastenträger an der Place de Greve, wo er
     die Schiffe belud. Doch eines Tages stürzte er mit einem Sack Weizen
     von der Laufplanke in die Seine, wo ihn die Fluten verschlangen. Da war
     ich zwölf Jahre alt. Und ich hatte vier jüngere Geschwister. Und
     wir waren arm …« Ihre Stimme versagte. Ich war schockiert und
     gerührt. Doch Meister Philippe verzog keine Miene.                     
    »Das ist eine
     Geschichte, die ich schon so oft gehört habe, dass ich es ' nicht
     mehr zählen mag«, sagte er ruhig. »Alle sündigen
     Frauen erzählen mir von früh verstorbenen Vätern und
     kleinen Geschwistern, die ohne ihr frevlerisches Tun verhungern müssten.
     Ich glaube dir diese Geschichte nicht. Erzähl mir lieber eine
     Geschichte, die ich noch nicht kenne: die von dem, was du gesehen hast.«
     Jacquette richtete sich auf. Zum ersten Mal blickte sie uns an — und
     ich, der ich doch, wenn auch erst seit wenigen Stunden, Inquisitor war,
     wandte meine Augen ab von einer Straßendirne, die mich musterte.
    »Gestern, zur elften
     Stunde der Nacht, ging ich mit einem Mann in diese Gasse«, sagte La
     Pigeonette. »Einem Kanoniker von Notre-Dame«, setzte sie hinzu
     und nun klang ihre Stimme nicht mehr demütig, sondern frech. »Wer
     war es?«, fragte der Inquisitor scharf.
    Sie zuckte mit den Achseln.
     »Seinen Namen hat er mir nicht genannt, nur dass er zur Kirche
     Notre-Dame gehört. Sein Aussehen habe ich mir nicht gemerkt, denn es
     war schon dunkel und außerdem will ich mir nicht die Gesichter all
     der Männer einprägen, die sich meiner bedienen. Nur dass er dick
     war und kahl und das Gewand eines Priesters trug, das kann ich beschwören.
    Er gab mir fünf Sous und
     ich dachte, ich müsste tun, was er von mir verlangte, eine Sünde
     — für ihn genauso wie für mich — die man jedoch
     leichtfertig begeht, wenn das Fleisch schwach ist oder der Magen leer.
     Doch der Priester hatte anderes im Sinn: Plötzlich zog er eine
     eiserne Kette aus seinem Gewand, eine Kette, die mit Wolle umwickelt war.
     Damit drosch er auf mich ein, auf meine Brust und meinen Bauch, wieder und
     immer wieder. Auch als ich noch am Boden lag. Ich bekam keine Luft mehr
     von all den Schlägen.
    Irgendwann ließ er von
     mir ab und verschwand. Ich lag in dieser Gasse, vor Schmerzen nicht fähig,
     mich aufzurichten. Ich weiß nicht, wie lange ich so zubrachte.
    Da hörte ich irgendwann,
     es war finsterste Nacht, Schritte, dann Rufen, dann ein Geräusch, als
     würde ein Sack Weizen auf die Straße fallen, dann wieder
     Schritte. Danach war es eine Zeitlang still, dann hörte ich wieder
     Schritte. Ich hoffte, dass mir jemand helfen würde, also zog ich
     mich, meinen brennenden Körper vergessend, bis zum Ausgang dieser
     Gasse, wo ich Notre-Dame erblickte — und davor einen Mann. Oder
     besser gesagt: zwei Männer.« Sie schwieg. Meister Philippe
     zeigte keine Regung. Geduldig starrte er die Straßendirne an und
     wartete darauf, dass sie die Kraft fand, weiterzureden.
    »Vor dem Portal lag ein
     Mensch. Dass es ein Mönch war, haben mir erst die Sergeanten gesagt.«
     Hierauf warf Meister Philippe den beiden einen strengen Blick zu, schwieg
     jedoch. »Ich erkannte nur ein dunkles Bündel im fahlen Licht
     des Mondes. Und darüber beugte sich eine Gestalt…«
    »Was tat diese Gestalt?«,
     fragte der Inquisitor, als Jacquette vergessen zu haben schien,
     weiterzusprechen.
    »Sie hatte sich über
     den Liegenden gebeugt. Es sah so aus, als zerrte sie an einem Beutel, der
     irgendwie mit der Gestalt am Boden verbunden war. Jedenfalls bekam sie den
     Beutel nicht ab. Doch dann sah ich, wie sie ein großes Stück
     Buch aus dem Beutel zog.«
    »Ein Buch?«,
     fragte Meister Philippe erstaunt.
    La Pigeonette nickte. »Ja,
     so groß wie die Bibeln, welche die Priester in der Heiligen Messe
     emporheben. Und prachtvoll schien es mir zu sein. Pergament war es, es
     schimmerte im Mondlicht.«
    »Was stand darauf?«,
     fragte ich, der ich meine Neugier und meine Verwunderung nicht länger
     bezähmen konnte. Sofort bereute ich meine Frage.
    Denn Jacquette warf mir einen
     verwunderten Blick zu, der sich sogleich in Spott verwandelte. »Ich
     kann nicht lesen«, entgegnete sie. »Und selbst wenn ich es könnte:
     Die Entfernung war zu groß, als dass ich irgendetwas hätte
     erkennen können.«
    »Das Buch magst du
    

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