In Nomine Mortis
demütig, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Arm war
er, aber ehrbar. Er war ein Lastenträger an der Place de Greve, wo er
die Schiffe belud. Doch eines Tages stürzte er mit einem Sack Weizen
von der Laufplanke in die Seine, wo ihn die Fluten verschlangen. Da war
ich zwölf Jahre alt. Und ich hatte vier jüngere Geschwister. Und
wir waren arm …« Ihre Stimme versagte. Ich war schockiert und
gerührt. Doch Meister Philippe verzog keine Miene.
»Das ist eine
Geschichte, die ich schon so oft gehört habe, dass ich es ' nicht
mehr zählen mag«, sagte er ruhig. »Alle sündigen
Frauen erzählen mir von früh verstorbenen Vätern und
kleinen Geschwistern, die ohne ihr frevlerisches Tun verhungern müssten.
Ich glaube dir diese Geschichte nicht. Erzähl mir lieber eine
Geschichte, die ich noch nicht kenne: die von dem, was du gesehen hast.«
Jacquette richtete sich auf. Zum ersten Mal blickte sie uns an — und
ich, der ich doch, wenn auch erst seit wenigen Stunden, Inquisitor war,
wandte meine Augen ab von einer Straßendirne, die mich musterte.
»Gestern, zur elften
Stunde der Nacht, ging ich mit einem Mann in diese Gasse«, sagte La
Pigeonette. »Einem Kanoniker von Notre-Dame«, setzte sie hinzu
und nun klang ihre Stimme nicht mehr demütig, sondern frech. »Wer
war es?«, fragte der Inquisitor scharf.
Sie zuckte mit den Achseln.
»Seinen Namen hat er mir nicht genannt, nur dass er zur Kirche
Notre-Dame gehört. Sein Aussehen habe ich mir nicht gemerkt, denn es
war schon dunkel und außerdem will ich mir nicht die Gesichter all
der Männer einprägen, die sich meiner bedienen. Nur dass er dick
war und kahl und das Gewand eines Priesters trug, das kann ich beschwören.
Er gab mir fünf Sous und
ich dachte, ich müsste tun, was er von mir verlangte, eine Sünde
— für ihn genauso wie für mich — die man jedoch
leichtfertig begeht, wenn das Fleisch schwach ist oder der Magen leer.
Doch der Priester hatte anderes im Sinn: Plötzlich zog er eine
eiserne Kette aus seinem Gewand, eine Kette, die mit Wolle umwickelt war.
Damit drosch er auf mich ein, auf meine Brust und meinen Bauch, wieder und
immer wieder. Auch als ich noch am Boden lag. Ich bekam keine Luft mehr
von all den Schlägen.
Irgendwann ließ er von
mir ab und verschwand. Ich lag in dieser Gasse, vor Schmerzen nicht fähig,
mich aufzurichten. Ich weiß nicht, wie lange ich so zubrachte.
Da hörte ich irgendwann,
es war finsterste Nacht, Schritte, dann Rufen, dann ein Geräusch, als
würde ein Sack Weizen auf die Straße fallen, dann wieder
Schritte. Danach war es eine Zeitlang still, dann hörte ich wieder
Schritte. Ich hoffte, dass mir jemand helfen würde, also zog ich
mich, meinen brennenden Körper vergessend, bis zum Ausgang dieser
Gasse, wo ich Notre-Dame erblickte — und davor einen Mann. Oder
besser gesagt: zwei Männer.« Sie schwieg. Meister Philippe
zeigte keine Regung. Geduldig starrte er die Straßendirne an und
wartete darauf, dass sie die Kraft fand, weiterzureden.
»Vor dem Portal lag ein
Mensch. Dass es ein Mönch war, haben mir erst die Sergeanten gesagt.«
Hierauf warf Meister Philippe den beiden einen strengen Blick zu, schwieg
jedoch. »Ich erkannte nur ein dunkles Bündel im fahlen Licht
des Mondes. Und darüber beugte sich eine Gestalt…«
»Was tat diese Gestalt?«,
fragte der Inquisitor, als Jacquette vergessen zu haben schien,
weiterzusprechen.
»Sie hatte sich über
den Liegenden gebeugt. Es sah so aus, als zerrte sie an einem Beutel, der
irgendwie mit der Gestalt am Boden verbunden war. Jedenfalls bekam sie den
Beutel nicht ab. Doch dann sah ich, wie sie ein großes Stück
Buch aus dem Beutel zog.«
»Ein Buch?«,
fragte Meister Philippe erstaunt.
La Pigeonette nickte. »Ja,
so groß wie die Bibeln, welche die Priester in der Heiligen Messe
emporheben. Und prachtvoll schien es mir zu sein. Pergament war es, es
schimmerte im Mondlicht.«
»Was stand darauf?«,
fragte ich, der ich meine Neugier und meine Verwunderung nicht länger
bezähmen konnte. Sofort bereute ich meine Frage.
Denn Jacquette warf mir einen
verwunderten Blick zu, der sich sogleich in Spott verwandelte. »Ich
kann nicht lesen«, entgegnete sie. »Und selbst wenn ich es könnte:
Die Entfernung war zu groß, als dass ich irgendetwas hätte
erkennen können.«
»Das Buch magst du
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