In Nomine Mortis
Schaulustigen anzieht. Dass die Gegenwart zweier
Dominikaner, in denen jeder Inquisitoren vermuten musste, alle Neugierigen
vertrieben hatte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. So blickte
ich, betrübt, jedoch ungestört, auf den verstorbenen Bruder,
dessen sterbliche Hülle nun aus dem Schatten von Notre-Dame
fortgetragen wurde. »Was mag terra perioeci bedeuten?«, murmelte ich.
»Der Begriff bezieht sich auf ein Volk aus alter Zeit«,
antwortete Meister Philippe. »Heiden. Griechen, soweit ich mich
erinnern kann. Ich glaube, Aristoteles erwähnt sie wiederholt in
seiner ›Ethik‹. Sie mögen auch bei Herodot und anderen
der alten Gelehrten erwähnt sein, doch entsinne ich mich nicht mehr
des Wortlauts dieser Texte. Ich kenne allerdings kein Land der
Christenheit - oder eines jenseits davon —, das so genannt wird.«
»Es muss eine
geheimnisvolle Bedeutung haben, sonst hätte Heinrich von Lübeck
es nicht mit sterbender Hand niedergeschrieben«, sagte ich.
»Es mag ein Bild sein,
das für etwas ganz anderes steht, als die Worte zu beschreiben
scheinen. So wie wir manchmal von Avignon sprechen, obwohl wir doch Seine
Heiligkeit, den Papst, meinen. Der Ort, an dem unser Oberhaupt thront,
wird zum symbolischen Namen für ihn selbst«, antwortete mir der
Inquisitor sinnend. »Es mag ein Hinweis sein auf das ferne Land der
Griechen, das dem Kaiser von Byzanz Untertan ist. Oder es mag ein Symbol für
irgendetwas sein, das aus der heidnischen Zeit auf uns gekommen ist.«
Meine Seele wurde leichter,
denn plötzlich schien mir Meister Philippe die dunklen Spuren zu
deuten, wie ein großer Doktor der Theologie manch dunkle Stelle der
Heiligen Schrift zu deuten versteht und damit den Glauben der Christen
leuchten lässt. »Oder es ist ein Hinweis auf einen Mann, der
sich mit dem Studium der Alten beschäftigt. Wir sind in Paris:
Nirgendwo auf der Welt leben so viele Gelehrte wie hier«, rief ich
eifrig.
Der Inquisitor lächelte
mitleidig. »Wenn dies so ist, mein junger Freund, dann hat uns der
arme Heinrich von Lübeck einen reichlich unklaren Hinweis
hinterlassen. Jeder Gelehrte hier, selbst der jüngste Student, wird
mindestens einmal den Aristoteles gelesen haben müssen. Er ist fester
Bestandteil des
curriculum. Wir hätten mehr Verdächtige,
als uns lieb sein kann.«
Er schwieg lange, dann schüttelte
er den Kopf. »Nein, vorerst müssen wir es mit dem seltsamen
Begriff auf sich beruhen lassen. Er führt uns momentan nicht weiter.
Mag sein, dass wir später eine Spur finden werden, die wieder an die terra perioeci anknüpft. Wir werden jedoch
erst einmal einen anderen Weg gehen, den uns unser toter Mitbruder
gewiesen hat.
Unsere bisherigen Hinweise
tragen die Aufschriften ›Deutschland‹ und ›Kaufmann‹.
Denn dass er aus deutschen Landen kam, ist unbestritten, und dass sein
Geld«, hier wog er den Lederbeutel bedeutungsvoll in der Hand,
»nicht aus einer Truhe unseres Ordens, sondern eher von einem vermögenden
Händler stammt, ist zumindest eine nicht unwahrscheinliche Hypothese.«
Ich nickte stumm, da mir auch
nichts Besseres einfiel. »Lasst uns doch einmal in die Kirche gehen,
Meister Philippe«, bat ich. »Heinrich von Lübeck wurde
vor Notre-Dame erstochen. Vielleicht war er zuvor in der Kathedrale und
hat dort schon seinen Mörder gesehen. Mag sein, dass wir im Hause
GOTTES etwas finden - auch wenn ich nicht einmal weiß, wonach wir
suchen müssen.«
Der Inquisitor dachte kurz
nach, dann nickte er. »Ich wüsste zwar nicht, was wir entdecken
könnten - doch schaden kann es bestimmt nicht, mit offenen Augen
durch Notre-Dame zu gehen.«
Wir schritten durch die Porte
Rouge und ich blieb stehen, bis sich meine Augen an das Halbdunkel im
Kircheninnern gewöhnt hatten. Die letzten Strahlen der Sonne fluteten
durch die große Rosette, die zwischen den Türmen prunkte. Gold
und rot und blau brach sich ihr Licht und wehte gleich Schleiern aus einer
anderen Welt durch das Haus GOTTES.
»Wer könnte es
wagen, hier auch nur an eine Sünde zu denken, geschweige denn, sie
auszuführen!«, flüsterte ich überwältigt. Der
Inquisitor warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Junger Freund«,
antwortete er, »die Macht Satans reicht nicht in den Himmel, doch
sie reicht bis in die Kirchen. Denn selbst die prächtigste Kathedrale
ist letztlich doch nur
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