In Nomine Mortis
Menschenwerk.«
Wir schlenderten am Kranz der
Kapellen vorbei, die links von der Porte Rouge den Chor umgaben und die
vom tief stehenden, farbigen Licht kaum noch liebkost wurden. Sie glichen
Höhlen, die von Menschen noch vor der Zeit der Sintflut in den Fels
hineingemeißelt wurden.
Als ich diesen Gedanken erwähnte,
da lächelte Meister Philippe. »Und doch sind sie keine zwanzig
Jahre alt. Die Meister Pierre de Chelles und Jean Ravy haben sie entworfen
und gebaut und beide weilen noch unter den Lebenden von Paris. Heilige
Orte haben sie geschaffen, mögen sie dermaleinst im Angesicht des
HERRN dafür belohnt werden.
Doch kaum war ihr Kranz aus
Kapellen vollendet, da fanden sich außen, im Wald der Streben,
Pfeiler und kühnen Bögen, in den Winkeln, Erkern und unter den
Vorsprüngen Schönfrauen ein, um in diesen Verstecken ihr
frevlerisches Tun auszuüben. Ich würde mich nicht wundern, wenn
Jacquette, das Täubchen, das nicht einmal seinen Namen lesen kann,
den Grundriss dieser Kathedrale besser kennt als so mancher Kanoniker.«
»Zumindest ein
Kanoniker dürfte ihr in diesem Wissen gleichkommen«, entgegnete
ich unbesonnen, dann senkte ich schnell demütig den Blick. »Verzeiht
meine Respektlosigkeit, Meister Philippe.« Doch mein Mitbruder
segnete mich, zu meiner nicht geringen Überraschung. »Spott«,
antwortete er, »ist eine gute Waffe des Inquisitors. Nur wer die
Scheu ablegt, allen Menschen und Dingen ins Gesicht zu sehen, der wird auf
den Grund eines jeden Geheimnisses kommen- und Spott hilft uns dabei, den
falschen Respekt, der unsere Gedanken zu vernebeln vermag wie Rauch eines
nassen Feuers, aus unseren Herzen zu vertreiben. So spotte nicht im
Angesicht der Kanoniker über einen der ihren, denn das geziemt sich
nicht. Doch mir gegenüber lege dir keine Zügel an. Ich erlaube
dir jedes respektlose Wort, ja ich fordere es. Ich habe nur eine
Bedingung.« Er lächelte mich an. »Es darf nicht dumm
sein.«
Ich nickte dankbar. Wir
gingen durch das gewaltige Kirchenschiff, in dem sich nur noch wenige Gläubige
aufhielten. »Zu so später Stunde, gestern in der Nacht, hätte
Heinrich von Lübeck das Kloster gar nicht mehr verlassen dürfen«,
murmelte ich. »Ich habe den Portarius gefragt, gleich nachdem ich
von dem Mord erfahren habe«, antwortete der Inquisitor. »Heinrich
von Lübeck hat gestern schon bei der Vesper gefehlt. Niemand weiß,
wann genau und wie er verschwunden ist. Er muss in nachmittäglicher
Stunde unser Haus an der Rue Saint Jacques verlassen haben. Seither
scheint ihn kein Mensch mehr gesehen zu haben — zumindest keiner
unserer Mitbrüder.«
Wir näherten uns dem
gewaltigen Portal in der Westfassade von Notre-Dame — jenem Portal
unter der Rosette, durch die das letzte Licht hineinströmte.
»Ich würde gar zu
gerne einen der Türme besteigen, um einen Blick auf Paris zu werfen«,
sagte ich hoffnungsvoll.
Meister Philippe hob
bedauernd die Hände. »Die Glöckner haben die Pforten zu
beiden Türmen schon verschlossen«, erklärte er mir.
»Doch werden wir an einem der nächsten Tage sicher einmal Zeit
finden, den mühseligen Weg nach oben zu gehen. Doch nun lass uns
eilen, damit wir wenigstens noch zum letzten Gebet der Vesper im Kloster
sind.«
Wir schritten hinaus. So sehr
mich das Haus GOTTES beeindruckt hatte, ich hatte nichts entdeckt, das mir
irgendeinen Hinweis darauf gegeben hätte, ob — und wenn ja:
warum — Heinrich von Lübeck in den letzten Stunden seines
Lebens hier gewandelt sein könnte.
Nachdem wir die Seine überquert
hatten, fanden wir uns plötzlich bedrängt von einer
Menschenmenge. Wir schoben uns durch die Masse schmutziger, schwitzender
Leiber, was mir unrein dünkte, denn am liebsten hätte ich
niemanden berührt, doch wäre ich dann keinen Schritt
vorangekommen. So nahm ich mir denn ein Beispiel an Meister Philippe, der
sich unbekümmert seinen Weg bahnte. Die Menschen achteten nicht auf
uns, sondern starrten auf einen kleinen Platz vor einer Kirche, fast
direkt gegenüber dem Petit Pont, über den wir soeben geschritten
waren. Viele schrien oder lachten, ich hörte Hohnworte und
Schlimmeres.
Endlich sah ich, was die
Menschen so belustigte: Jemand hatte ein Ferkel an einen Pfahl gebunden,
der mitten auf dem Platz stand. In einem wilden Reigen torkelten vier Männer
um das ängstlich quiekende kleine Schwein. »Sie
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