In Nomine Mortis
nicht gelesen haben«, sagte Meister Philippe. »Aber vielleicht
kannst du uns wenigstens sagen, wie der Mann ausgesehen hat, der es aus
dem Beutel zog?«
La Pigeonette blickte zu
Boden. »Ich habe nicht viel gesehen«, murmelte sie. »Er
hatte einen Umhang an und war ziemlich groß, glaube ich, vielleicht
schien er mir aber auch nur wegen der Düsternis so groß zu
sein. In sein Gesicht konnte ich nicht blicken.« Der Inquisitor
nickte. »Und was geschah weiter?«, fragte er. »Der Mann
muss mich gehört haben, als ich über das Pflaster der Gasse
kroch«, sagte Jacquette leise. »Er richtete sich auf und
sprang von dem Körper weg. Jetzt hat er mich entdeckt und wird auch
mich erschlagend, dachte ich. Und vor Schmerzen und Schreck wurde ich ohnmächtig.
Erst die beiden Sergeanten haben mich«, sie zögerte erneut,
»geweckt«, vollendete sie schließlich und warf den
beiden Männern einen wütenden Blick zu.
»GOTT hat dich beschützt,
obwohl du eine Sünderin bist«, sagte Meister Philippe. »Denn
der Unbekannte muss geflohen sein, als er dich hörte. So aber wirst
du, obwohl die niedrigste der Frauen, doch zum Werkzeug SEINER Rache. Denn
immerhin hast du uns auf die erste Spur gebracht. Ich werde dich nicht
nach Orleans schicken.« Jacquette fiel wieder auf die Knie und
murmelte Dankesworte, doch er hob abwehrend die Hände.
»Aber ich brauche dich
vielleicht noch«, sagte Meister Philippe. Plötzlich klang seine
Stimme eisig. »Führt sie in den Kerker des Grand Châtelet,
bis ich nach ihr schicke«, befahl er den beiden Sergeanten.
Jacquette starrte uns einen Augenblick lang zornerfüllt an, dann
spuckte sie uns vor die Füße. Ruppig riss der dickere der
beiden Sergeanten an ihrem Strick und schleifte sie fort, während
sich sein Kamerad beflissen verbeugte. »Sollen wir sie peitschen
lassen, Herr?«, fragte er.
Meister Philippe machte eine
Geste, als wolle er Fliegen verscheuchen. »Sorge mit Herrn Garmel
dafür, dass der Körper unseres Mitbruders mit der Ehre, die ihm
gebührt, in unser Kloster gebracht wird. Ich habe nun nachzudenken!«
»Eine Gestalt, verhüllt
von einem dunklen Mantel, groß oder vielleicht auch nicht, beugt
sich über den toten Mönch und raubt ihm ein Buch, in dem etwas
uns Unbekanntes steht«, murmelte Meister Philippe. »Nach
dieser Beschreibung könnte fast jeder Mann in Paris der Mörder
gewesen sein«, erwiderte ich, ohne große Hoffnung in der
Stimme.
Der Inquisitor sah mich an
und lächelte dünn. »Ne ergo timueritis eos
nihil enim opertum quod non revelabitur et occultum quod non scietur. Du glaubst, dass es ein Mann ist,
doch tatsächlich hat die Dirne kaum mehr als eine Gestalt gesehen,
verborgen unter einem Gewand. Es kann, selbst wenn es uns wenig
wahrscheinlich vorkommen mag, auch eine Frau gewesen sein.«
Ich hob die Hände.
»Aber dann kann es ja fast jeder getan haben! Wie sollen wir die
Seelen aller zweihunderttausend guten Bürger von Paris prüfen?«
Meister Philippe lachte
jetzt. »Der HERR hat uns eine noch kompliziertere Aufgabe gestellt,
als du annimmst, mein junger, ehrgeiziger, jedoch leicht zu entmutigender
Bruder: Jacquette hat nur gesehen, dass sich die Gestalt über den
Toten gebeugt hat. Sie hat nicht gesehen, dass er ihn auch ermordete. Mag
sein, dass Heinrich von Lübeck schon gefallen war, als jener
Unbekannte sich ihm näherte. Ich glaube außerdem, dass uns das
Täubchen nicht alles gezwitschert hat, was es in jener Nacht gesehen
hat. Jacquette verschweigt uns etwas, ich spüre es. Deshalb ließ
ich sie in den Kerker bringen. Ein oder zwei Tage bei Wasser und Brot
reichen nach meiner Erfahrung gemeinhin aus, um der Erinnerung auf die Sprünge
zu helfen. Mag sein, dass sie uns dann noch etwas erzählen kann, das
uns weiterhilft.«
»Doch zunächst
haben wir nur das hier«, antwortete ich und machte eine vage Geste
hin zu der Gestalt, die von zwei hergerufenen Dienern des Nicolas Garmel
gerade verhüllt und auf eine Bahre gelegt wurde. Ein dritter löste
den Geldbeutel und brachte ihn zu uns. Er überreichte ihn unter
vielen Verbeugungen und verschwand schweigend.
Wäre ich ein wenig
erfahrener in solchen Dingen gewesen, ich hätte mich gewundert, warum
sich um den Toten keine Neugierigen und Gaffer gesammelt hatten, wo doch
selbst jeder sterbende Straßenköter auf den Gassen von Paris
die Spötter und die
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