In sanguine veritas - Die Wahrheit liegt im Blut (German Edition)
„Elias?“, hakte ich nach und winkte mit meiner freien Hand vor seinem Gesicht herum.
„Miri , ich habe meine Schwester gerufen. Bitte lass keinen mich wegbring…“ Das letzte Wort schaffte er nicht mehr auszusprechen. Er verlor das Bewusstsein und sackte in meinen Armen zusammen. Ich zog seinen Kopf auf meinen Schoß und fuhr ihm mit meiner blutigen Hand immer wieder durch das feuchte Haar. Es dauerte keine Minute, bis der Flur anfing, sich mit Mitschülern zu füllen. Eine riesige Menschentraube bildete sich um uns. Ich umklammerte seinen Oberkörper, um ihn vor den Blicken der anderen zu schützen. Einige Lehrer flehten mich an, von ihm wegzugehen, und einer verschwand, um entgegen meinem Protest einen Krankenwagen zu rufen.
„Seine Schwester kommt ihn holen , seine Schwester kommt ihn holen …“, jammerte ich immer wieder wie in Trance und kalter Schweiß rann meine Stirn hinunter. Es war, als ob alles in Zeitlupe ablaufen würde. Die Stimmen meiner Mitschüler waren nur sinnloses Gebrabbel in meinen Ohren. Meine ganze Konzentration galt Elias’ flachem Atem.
Zu unser beider Glück war Anastasija schneller als der Notarzt. Sie sah mich dankend an, hob ihren Bruder hoch, als ob er nichts wiegen würde, und verschwand, ohne ein Wort zu sagen. Ich bekam nur am Rande mit, dass Aisha und Eva abwechselnd meine Hand hielten.
Als die Ärzte des Rettungsteams einen ernsthaften Schock ausschließen konnten, schickte man mich nach Hause. Meine Mutter holte mich ab und ich ging ohne Umwege in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Mit dem Gesicht voran ließ ich mich auf mein Bett fallen und lauschte eine ganze Weile lang meinem Atem. Trotz der furchtbaren Situation, in der wir gewesen waren, hatte es sich so richtig angefühlt, ihn im Arm zu halten. So verdammt richtig, als ob er dort hingehörte! Ich rappelte mich in den Schneidersitz auf und betrachtete meine Hose mit all dem getrockneten Blut. Hier war jetzt nicht mein Platz, ich sollte bei ihm sein.
Mein Handy vibrierte in meinem Rucksack, aber ich wollte im Augenblick mit niemandem sprechen. Ich wollte einfach nur allein sein und weinen. Die ersten Tränen kullerten bereits meine Wange hinunter und ich rollte mich zusammen. Ich fühlte mich so klein und zerbrechlich. Der Drang, bei ihm zu sein, war so groß und mächtig, dass ich Angst hatte, es würde mich innerlich zerreißen. Ich musste einfach wissen, wie es ihm ging.
Das Handy! Natürlich, ich konnte ihn anrufen, vielleicht würde ich wenigstens seine Schwester an den Apparat bekommen.
In Windes eile krabbelte ich zum Fußende des Bettes und zurrte den Rucksack zu mir hoch. – Das gibt’s doch nicht! Elias’ Nummer war auf dem Display! Er hatte versucht, mich anzurufen und ich Idiot war nicht rangegangen. Eine Mischung aus Schluchzen und Stöhnen drang aus meiner Kehle und ich wählte mit zitternden Fingern mein Adressbuch und dann seine Nummer aus. Mein Herz schien im tausendfachen Takt des Klingelns zu schlagen.
„Miriam?“, fragte Elias atemlos.
Mein Herz setzte aus. Ich schloss meine Augen und atmete tief durch.
„Miriam?“
„Ja. Wie geht es dir?“, brachte ich heraus, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Er ignorierte meine Frage und ich hörte seltsame, undefinierbare Atemgeräusche. Sicherlich raschelte seine Lunge noch so furchtbar.
„Oh , danke Gott, danke“, flüsterte er.
„Elias?“
„Ich dachte, jetzt wirst du erst recht kein Wort mehr mit mir sprechen. Es tut mir so leid, dass du das miterleben musstest. Wie geht es dir?“
„Ich hatte kein Messer im Rücken!“, keifte ich ihn an und bere ute es sofort. „Ich habe zuerst gefragt, wie es dir geht.“
„Miri, ich hab dir doch gesagt, dass ich schnell heile.“
„Dein Atem klingt immer noch so seltsam. Du kannst mir nicht sagen, dass es am Telefon liegt.“
„Das hat nichts mit der Verletzung zu tun.“ Er klang furchtbar aufgelöst. Weinte er etwa? Oh, Herr im Himmel, das war der Grund für seinen unregelmäßigen Atem.
„Oh , Elias“, schluchzte ich in den Hörer.
„Miriam? Weinst du?“ Plötzlich war seine Stimme fest und beherrscht.
„Ja .“ Mehr brachte ich nicht heraus.
„Gib mir fünf Minuten!“, hörte ich ihn sagen, dann war die Ve rbindung unterbrochen. Er brauchte etwas Zeit, um sich zu fangen, und ich hatte nicht vor, ihn zu nerven. Bis er sich wieder beruhigt hatte, würde ich warten, also legte ich das Handy vor mir hin und starrte auf das Display. Auch ich
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