In Santiago sehen wir uns wieder
Río
Donnerstag, 26. Juni
Heute versuche ich die Uhr und die Zeit zu vergessen und nur noch zu gehen, gehen ohne Ziel. Torres del Río. Wunderschön ist die Heiliggrabkirche, achteckig wie die Kirche von Eunate und vom selben Baumeister erbaut, nur viel kunstvoller als diese. Lange stehe ich unter der Kuppel, aber ich spüre nichts. »Ich habe die Kraft, die von oben auf mich niederströmte, kaum ausgehalten«, sagt Maria, als wir uns am Abend bei einem Gläschen Wein in der Bar unterhalten.
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Auf einem Meilenstein am Wegesrand finde ich einen Brief:
Für Mau
Wie ein Stern bist du auf diesem Weg.
Du kamst zu mir und brachtest mich näher: mir, uns, jedem näher...
Geh weiter, mein Freund, leuchtender Stern, und bringe anderen deinen Frieden und dein Herz, wie du es mir gebracht hast! Geh weiter, die Welt wartet!
Danke für alles, mein Herz ist bei dir!
Sonja
Jessica, 28 Jahre, aus dem US-Staat Oregon, wollte ein paar persönliche Dinge klären. Zu diesem Zweck reiste sie nach Europa - Italien, die Türkei, ein paar griechische Inseln waren ihr Ziel. Auf der Durchreise landete sie in Saint-Jean-de-Luz. Am Strand fand sie zwei wunderschöne Muscheln. In Bayonne stieg sie in den Zug nach Italien. Plötzlich stellte sie fest, dass sie im falschen Zug saß. In der nächsten Stadt stieg sie aus - unversehens befand sie sich in St.-Jean-Pied-de-Port. Mit den Muscheln in der Hand erkundigte sie sich nach einem Zug zurück nach Bayonne. Die Leute sahen die Muscheln und wiesen immer wieder hinauf in die Pyrenäen. »Chemin Saint-Jacques«, meinte sie zu hören. Schließlich begriff sie. Sie schickte ihr Gepäck nach Amerika zurück, kaufte sich neue Schuhe und machte sich auf den Weg.
Uli aus Oberfranken, vielleicht 38 Jahre alt, ist seit Wochen mit seiner Hündin Lissi unterwegs. Er geht und geht, schläft draußen, wenn die Hündin nicht mehr weiter kann. Seine Uhr hat er verloren: »Ich richte mich nach der Sonne.«
Oliver aus Bamberg, 31 Jahre alt, sucht nach Lösungen. Er ist Geometer, möchte aber etwas anderes machen, nur was?
Luigi aus Nizza begann seinen Weg mit 24 kg Gepäck in zwei Rucksäcken. Sie enthielten unter anderem Nahrungsmittel für vier Wochen. Als er sich wegen des Gewichts einen Mittelfußknochen brach, ließ er das Essen stehen - das war in Carcassonne. Schritt für Schritt schleppte er sich weiter. Als ich ihn traf, schaffte er schon zwei Kilometer pro Stunde. »Ich werde ankommen in Santiago, und wenn ich auf den Händen laufe.« Kirchen und Messen interessieren ihn nicht. »Was soll das Gerede um Pilgerschaft? Die Könige der betreffenden Territorien und die Kirche brauchten den Camino, um die von den Arabern besetzten Gebiete zurückzuerobern und ihre Macht zu festigen - du weißt schon, die Reconquista. Außerdem brachten die Pilger regelmäßige Einnahmen; und für die Gesellschaft war es von Vorteil, wenn die nicht erbberechtigten Söhne in die Ferne zogen. Da waren sie beschäftigt. Nun, sie hätten ebenso gut in eine Armee oder ins Kloster gehen können. Ich jedenfalls feiere meine 50 Jahre...«
Eine Frau aus Gelsenkirchen hasst Maria, den Heiligen Jakob und das Getue um ihn. »Ich mache den Weg, um zu beweisen, dass er nichts ist.«
Torres del Rio - Logroño – Navarrete
Freitag, 27. Juni
Es ist noch kühl und halbdunkel, als ich aufbreche. Gleich einem Karfunkel liegt die Sonne zwischen zwei Gipfeln hinter mir, bis sie als feurig roter Ball in den Himmel schwebt. Vor mir Hügel, Täler, Getreidefelder, ein frischer Wind und eine unbegrenzte Zahl an Schritten.
Aus der Nacht habe ich einen Schwarm lästiger Gedanken mitgebracht. Sie schnappen nach mir wie Hyänen. Meinen Stock habe ich in der Herberge vergessen, wie also soll ich mich ihrer erwehren? Es ist der Missmut über das Permanentgeplappere der Mitpilger und ihre Hektik, der Ärger über den Abfall entlang des Weges und auf den Rastplätzen, der Überdruss - mein Leben in Süddeutschland, der Beruf als Therapeutin, die anderen, die Langeweile, der ganze Schotter, das Abgestandene -, ausnahmslos alles habe ich in meinen Rucksack gepackt und hierher geschleppt. Vielleicht sind deswegen die acht Kilogramm immer noch viel zu schwer. Schwäbische Laute, ich überhole sie, ein bayerischer Gruß, schon bin ich dran vorbei. Isabell und Diego aus Boston, wie immer in ein Gespräch vertieft: »Buen camino.« Oliver: »Man sieht sich!« - fast hätte ich einen kleinen, über den Weg zappelnden Frosch
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