In Santiago sehen wir uns wieder
lustige Symphonien.
Vor mir hüpft als orangefarbener Fleck eine Amerikanerin. Sie schenkt mir zwei Apfelsinen, die mich mit ihrem zusätzlichen Gewicht fast auf die Erde drücken. »Ich bin die Langsamste von allen«, sage ich zu ihr beim nächsten Treff. »Dazu haben Sie ein Recht. Wenn ich Ihr Gepäck schleppen müsste...!« Das ihre wird per Taxi von Hotel zu Hotel transportiert. Nach 13 Uhr ist es unerträglich schwül. »Neun Kilometer sind es noch«, sagt eine Französin, die ich unter dem Vordach einer Kirche aufstöre, und 670 Kilometer bis Santiago, sehe ich in ihrem Führer. Gut, denke ich, irgendwann werde auch ich ankommen, und lege mich auf meine Matte, das Halstuch als Schutz vor den Fliegen über den Kopf gezogen.
Vor Jahrhunderten lebte in Neu-Mexiko ein Volk, das die Spanier Pueblo-Indianer nannten. Zwischen den Pueblo-Indianern und den Spaniern kam es zu einer Schlacht, und natürlich siegten die Spanier. »Wer war der Reiter auf dem weißen Pferd, der euch den Sieg gebracht hat?« fragten die Besiegten. »Es gab keinen Reiter auf einem weißen Pferd«, sagten die Spanier. Aber der Hauptmann schrieb in die Chronik: »Der Heilige Jakob erschien in der Schlacht und verhalf uns zum Sieg.«
Viele Jahrhunderte später verließen Eltern mit ihrer Tochter ihren Heimatort in Neu-Mexiko, um der Sache auf den Grund zu gehen. Sie brachen auf, als Pilger nach Santiago de Compostela. Als ich gerade am Einschlafen bin, kommen sie die Treppe zu mir herauf. Sie scheinen am Ende zu sein. Der Mann schleppt einen riesigen Bauch vor sich her, von Operationsnarben durchfurcht, auf dem Rücken trägt er einen noch größeren Rucksack. Die Frau kann kaum mehr gehen. Ihr Knie ist steif vor Schmerzen. Die Tochter ist sehr besorgt. Aus ist es mit der Ruhe, aber diesmal laufe ich nicht weg. »Vor der Reise war das Knie noch in Ordnung«, sagt die Dame Diana, und ich: »So könnt ihr nicht weitergehen, neun Kilometer! Gleich gibt es ein Gewitter, es donnert schon.« Es wird eine Lösung geben, denke ich und mache mich auf ins Dorf. Ja, es gibt eine: Einer bricht seine Siesta ab und fährt uns in seinem makellos weißen Taxi vor die Pilgerherberge in Estella. Nachdem ich geduscht, die Wäsche gewaschen und aufgehängt habe, geht ein Platzregen nieder und wäscht alles blank und rein. Während ich versuche, der Dame Knie wieder in Gang zu bringen, erzählt sie mir von der Erscheinung des Heiligen Jakob in der Schlacht der Spanier gegen die Pueblo-Indianer.
»700 Kilometer Wunder liegen vor dir«, hatte Cornelisz vor der Kirche von Eunate gesagt, und ich spüre die erneuernde Kraft dieses Weges.
❖
Rosenkranz und Messe in der Kirche San Pedro de la Rúa. Alle haben es eilig, vor allem der Messdiener treibt. Beherzt stimmt er die Lieder an; als er die Hostie fallen lässt, hebt er sie flink auf und entsorgt sie unter einen Stuhl. Der junge Priester geht gebeugt, er scheint unter der Last seines Amtes zu leiden. Während die Messe vor sich hinrast - aufstehen, beten, knien, singen, sitzen -, denke ich: Ihr dort oben beim Altar, was macht ihr da eigentlich? Der Camino ist doch viel älter als ihr. Und ich sehe, wie der Weg als Energiestrom im Osten entspringt, Nordspanien durchquert und da mündet, wo man später das Grab des Heiligen Jakob fand. Und ich sehe, wie sich die katholische Kirche als mächtiges Schiff auf diesen Strom setzt, wie die Pilger kommen - aber der Strom war schon immer da. Seltsam, diese Empfindung, denke ich, aber ich werde ihr nachgehen.
Estella - Villamayor de Monjardín
Mittwoch, 25. Juni
Heute ist Langsamkeit angeraten, denn ich will dem Hauptstrom der Pilger entkommen. Die Nacht im Massenschlafsaal war grässlich. Vor Villamayor der wiederaufgebaute Brunnen »Fuente de los Moros«. Steile Stufen führen hinab in seinen tiefen Schacht. Das Wasser singt sein tropfendes Lied. Ringe breiten sich bis in den hintersten Winkel aus. Ich tauche hinein in das klare Wasser, bin Nymphe für einen kühlen Moment. Vorbeiziehende Pilger verdunkeln den Eingang, ein kurzer Blick, dann sind sie verschwunden. Und ich, ich sitze und lausche meiner Musik. Irgendwann komme ich in der kleinen stillen Herberge von Villamayor an. Sie wird von holländischen Baptisten betreut. Die Kirche ist offen. Romanisch schlicht. Ich sitze und sitze, bis sich die Zeit verflüchtigt. Da spüre ich sie wieder, diese Energie, den Strom unter dem Strom.
Villamayor de Monjardín - Torres del
Weitere Kostenlose Bücher