In Santiago sehen wir uns wieder
übersehen. Bergauf und bergab, mal oberhalb, mal unterhalb der Nationalstraße. Die Eselsschlucht mit frischem Grün. Strohballen - erschöpft ruhe ich aus.
Der Sumpf, an dem ich sitze und mich ausruhe, ist trockengelegt. Ich möchte meine Füße baden und mich als Fisch durch die Fluten bewegen. Oder als Schmetterling Nektar naschen. Flammend blauviolette Avokadoblüten, zum Himmel gewandt. Stacheldrahtverhau, Weinberge, Feigenbäume, Nussbäume, Palmen und Agaven im Staub. Hügelbergesrücken in Wolken, Großstadtbunker im Mittagsdunst. Wegwarten am Straßenrand und Sterne, vom Himmel gefallen. Hier bin ich, herkommend von fern, gehend in die Ferne. Das Ziel in den Wolken. Ohne Zeit und ohne Zahl schleppe ich mich und mein Haus über Wege auf dem Weg. Ein Rätsel, verborgen, alles verborgen.
Logroño. Im Park am Ebro Störche. Es ist ein Starten und Landen wie auf einem Flughafen, ein Klappern und Flattern. Die Herberge ist mir zu groß und zu voll. Die Dame aus Neu-Mexiko hat einen Schaden am Meniskus, erfahre ich, sie wird den Bus nehmen. Oliver bekommt feuchte Augen, als ich weitergehen möchte: »Ich will dich unbedingt wiedersehen.« Jessica zeigt mir, wo ich meine E-Mails lesen kann. Per Autostopp fahre ich die letzten dreizehn Kilometer nach Navarrete, wo ich hoffe, Ruhe zu finden.
Navarrete - Nájera – Azofra
Samstag, 28. Juni
Ich gehe an der Nationalstraße entlang. Lastwagen jagen an mir vorbei. »Der Camino versorgt dich mit allem, was du brauchst - bleib mit dir im Kontakt.« Kapitelle mit Darstellungen aus dem Pilgerleben. Wegwarten mit ihren traumblauen Blüten halten mir die Treue, gelbe Sternenbündel. Durch die hügeligen Weinberge führt der Weg nach Ventosa. Heute wird geschwefelt, also brauchen meine Lungen genau das. Die Messe gestern Abend: ein engagierter Priester, beherzt singende Frauen. Der goldene Glanz des barocken Zierrats wächst hinauf in die klare Geometrie der gotischen Gewölbe. In den Lautsprechern das Dauergerede des Fernsehers oder eines Radiosenders. Irgendetwas ist in der Sakristei falsch geschaltet, keiner hört es. Es ist laut, in der Herberge, in der Bar, während der Nacht. »Du lernst, was du zu lernen hast.«
Nájera. Ich stehe auf der Brücke über den Rio Najerilla und lausche dem breit dahinfließenden Plappern, Rauschen, Gurgeln. Zwischen den Steinen trinken die Kelche der Winden das milchige Licht dieses Tages. Im Kloster thront eine Madonna, von Ruhe umgeben. Ich wandere um das Geviert des Kreuzgangs - in Stein gehauene Ranken, Palmen und das Silbrigweiß der Störche, die durch das Blau des Himmels fliegen. Langsam steige ich aus dem Brodeln der Stadt hinauf in die wellige Hochfläche der Rioja. Weinfelder erstrecken sich bis an den Rand karger Hügel, hohe Gebirge leuchten im Hintergrund. Ich kühle meine heißen Füße in den Bewässerungsrinnen, die allenthalben den Weg säumen. Ja, das Jahr sei gut für den Wein, sagt ein Bauer, es habe genug geregnet und jetzt das gute Wetter! Dann will er meine Zeichnungen sehen. Die Berge in meinem Rücken seien viel schöner als die vor mir, da gebe es Skipisten, doch leider sehe man sie nicht. Dann bringt er mir sein Fernglas, und ich sehe zwar nicht die hohen Berge, aber die Burgruine von Clavijo im Süden Logroños.
Im Jahr 844, also ungefähr dreißig Jahre nach der Entdeckung des Jakobgrabes in Santiago, kam es dort zu einer Schlacht zwischen den Truppen des Königs von Asturien und den Mauren, die dieses Gebiet beherrschten. Die Christen waren im Begriff zu verlieren, als ein Reiter auf einem weißen Pferd erschien. Er tötete zahlreiche Feinde und verhalf den Christen zum Sieg. Es war der Heilige Jakob, und seither wird er als Maurentöter - »matamoros« - und als Schutzpatron der »Reconquista« verehrt.
Wunderbar still ist es hier oben, zum Singen schön. Fröhlicher Dinge wandere ich nach Azofra. In der privaten Herberge sind wir nur zu zweit, die Irin Patricia und ich. Alles ist liebevoll gestaltet. Lärmschutzfenster, ein Raum für mich, ein frisch gewaschenes Laken auf dem breiten Bett! Ich versinke in einen tiefen Mittagsschlaf. Nach Stunden wache ich auf, meine gesamte Wäsche hängt maschinengewaschen auf dem Balkon. Der Hospitalero leiht mir Hemd und Hose, schenkt mit ein Glas Wein ein. »So, nach San Millán de Cogolla möchtest du morgen, um dann in Santo Domingo de la Calzada zu übernachten? Das ist nicht zu schaffen. Wenn du willst, fahre ich dich mit dem Auto
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