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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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meiner Mutter, am Fußende, der Vater neben mir. Zwanzig rote Gladiolen, gerade aufgeblüht, stehen neben dem Bett, und das Bett ist leer.
    Mutter ist vor zwei Tagen gestorben, und heute ist ihr Geburtstag. Gladiolen, ihre Lieblingsblumen. Wir sitzen an ihrem Bett und können es nicht fassen. Die Schwestern unten im Wohnzimmer beschriften die Briefumschläge für die Todesanzeige - wir beide sitzen da und weinen am Fußende von Mutters leerem Bett. Ich laufe durch die Hügel Navarras, nehme die Brille ab, ich sehe sowieso nichts mehr. Die Straße, die Steine, die Hügel, die Sonne. Wo sind die anderen? Sie wollten nachkommen. Ich sitze im Krankenhaus an Mutters Bett, streichle sie zum Abschied, von dem ich nicht weiß, dass es der letzte ist. »Sie wird es noch einmal schaffen«, sage ich, und Vater weint. Dann der Anruf auf dem Anrufbeantworter zwischen zwei Patienten. Langsam ziehe ich mein schönstes Sommerkleid an, packe Nachtzeug ein, pflücke im Garten Blumen, fahre ins Krankenhaus... Schmerz breitet sich aus auf meinem Weg durch die Hügel von Navarra. Die zerbrochene Einheit zwischen uns Schwestern. »Alle so unterschiedlich, und doch so einig in einem Ziel«, hatte der Vater am Tag der Beerdigung gesagt. Die Einheit ist zerfallen, Vorwürfe, Abweisungen, Unverständnis. Meine Seele ist aufgeraut und tränenerfüllt, als ich um die Ecke eines Hauses in Enériz biege. Da sitzen die Gefährten plaudernd vor einer Bar, versorgen ihre Füße und bestellen Kaffee.
     
    ❖
     
    Für mich gibt es kein Halten. Eunate ruft. »Um 1 Uhr beginnt die Fronleichnamsprozession in Puente la Reina«, rufen sie mir nach. »Bis später!«
    Ich sitze in der Kirche von Eunate, es ist 11.30 Uhr, noch viel Zeit bis zur Prozession. Die gedrechselte Stimme eines Deutschen draußen, in der Tür erscheinen deutsche Bus-Touristen. Ob ich einfach die vier Kilometer bis nach Puente la Reina mitfahre? Natürlich ist ein Platz frei. »Eine richtige Pilgerin! Wir machen es in drei Tagen«, sagen sie und fotografieren die Pilgerin mit dem schweren Rucksack und den staubigen Stiefeln. Als ich in Puente la Reina ankomme, gehen die vier Franzosen über die Straße und rufen der busfahrenden Pilgerin zu: »Verrat, Verrat! Die Messe in der Santiagokirche beginnt um 12 Uhr.« Vor der Kirche steht Arnold. »Arnold, komm, die Messe beginnt!« Feierlich und bewegend ist sie, diese Messe. Der Chor singt, die Gemeinde singt, ich singe mit. Dann wird die große Pforte der Kirche geöffnet, die goldene Monstranz unter dem Baldachin geschultert. Mädchen in weißen Kleidern führen die Prozession an, die Geistlichen folgen, die Würdenträger, die Blasmusik. Menschen begleiten den Zug auf den Bürgersteigen zu beiden Seiten der Straße. Ich reihe mich hinter der Monstranz ein. Freude herrscht, feuchte Augen, liebevolle Gesten unter den Menschen. Girlanden, geschmückte Balkons, es regnet Rosen. Gesichter hinter den Brüstungen und an den Fenstern wie auf Bildern von Goya. Der Zug zieht durch die Stadt, im Rhythmus der Blasmusik, halb Walzer, halb Marsch. Alles tanzt, wiegt und wogt. Wieder fließen meine Tränen, ich bin berührt - schon immer ging ich mit, gehörte ich dazu. Der Zug steht still, holt Atem, die Gemeinde singt, es geht schneller, Pause, und von neuem setzt die Blasmusik ein und das tanzende Wiegen und Wogen. Auf einmal schiebt mich eine Dame unsanft auf den für mich viel zu schmalen Gehweg - ich war unter die Würdenträger der Stadt geraten. Oh, mein gelbes Handtuch auf dem Rucksack, denke ich, und werde rot. Die Gefährten sind inzwischen in der Herberge gelandet. »Ich bin nur noch gerannt«, sagt Alexander und pflegt seine Füße. Ich verabschiede mich von allen. »Buen camino!« Arnold macht ein Foto von mir. Seine Augen leuchten wie die Augen eines Pilgers, der die Goldene Stadt schon gesehen hat: »Der Weg ist wie ein Virus...«, ich sitze im Bus und fahre nach Pamplona.
    Rosenkranz in der Kathedrale. Farbiges Licht, Klarheit, Transparenz. Leonor von Navarra, welch alabasterne Schönheit! Der Priester in Hemdsärmeln hinter dem Chorgitter hat es eilig. Er gähnt, zieht Grimassen und rast durch die Gebete. Ein Männerchor im Seitenschiff singt im Wechsel mit der Gemeinde, begleitet von der Orgel. Dann werden Fahnen mit dem Bildnis der Muttergottes durch die Kirche getragen, um den Chor herum, durch die Seitenschiffe, einmal, zweimal. Ich gehe mit und singe. Kirchen sind zum Gehen da, Säulen, Pfeiler, Bögen, alles bewegt sich, durch

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