In Santiago sehen wir uns wieder
Brasilien einige Tage später. »Es ist ein Zeichen dafür, dass die Erbauer asiatisches Wissen hatten.«
Nach einem guten Essen in Castrojeriz geht es eine Passhöhe hinauf, mit vollem Magen in der Mittagshitze. Ein weiter Blick in die nächste Talsenke mit ihren Feldern, ihren dürren Wiesen und dem Jakobsweg, der sich durch die Landschaft windet. Die Kirche San Nicolás ist unser Ziel, eine kleine Herberge, in der Pilger wie zu Zeiten Jesu mit Fußwaschung begrüßt werden. Aber da wir spät dran sind und wissen, dass die Gruppe um den lauten Gilbert uns voraus ist, müssen wir annehmen, dass alle Betten belegt sind. Auf jeden Fall werden wir uns erst einmal an der Fuente El Piojo abkühlen. Und da, da sitzt schon Pascal und strahlt uns an. »Na, Bella, wie wär’s mit Draußenschlafen, hier an einer gesegneten Quelle?« Es pfeift ein alles durchdringender Wind. Doch im Schutz der hohen Mauer werde ich ein geeignetes Plätzchen finden können, also werde ich heute Nacht zum ersten Mal draußen schlafen. Mary geht nach kurzer Rast weiter: »Sicher werden wir uns wieder begegnen, Bella.«
Während wir uns häuslich einrichten, kommt eine Familie mit Kindern, um Quellwasser zu schöpfen. Die Eltern fragen uns, warum wir nach Santiago pilgern. Wir versuchen, es ihnen zu erklären. Unterdessen hat der Wind den Ball des Jüngsten auf die Straße geblasen, er läuft hinterher - einer schreit und - es kommt kein Auto in diesen Sekunden! Die Mutter holt den Kleinen, alles ist in Ordnung, aber in mir sitzt ein tiefer Schreck.
Es wird Nacht. Eingehüllt in unsere Schlafsäcke, sitzen wir vor Pascals winzigem Zelt und reden miteinander. Dieses Mal bin ich diejenige, die die Ohren spitzt. »Ich will wachsen«, sagt Pascal, »ich will lernen, lernen, um weiterzugeben. Wir können so nicht weitermachen, wir müssen uns verändern. Ich habe viele junge Menschen getroffen, die auch so denken wie ich. In meiner Generation tut sich etwas.« - »Und die Kirche, meinst du nicht, dass sie eine Änderung bewirken kann?« frage ich. »Die Kirche mit ihren Messen? Was kann sie schon tun. Dogmen, Regeln, Gedankengebäude... Wir müssen bei null anfangen, beim Neuen Testament selbst. Dort steht alles, was brauchen wir mehr? Jesus sagt, dass wir das, was er kann, auch können. Also. Am wichtigsten ist die Liebe. Ich will geben, geben, geben.« - »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, füge ich hinzu, »sich selbst lieben, Pascal, das ist schwer, sehr schwer, ich versuche es seit bald 59 Jahren. Wie kann man es lernen?« - »Bella, wir sind noch nicht in Santiago angekommen.«
Der Wind wütet um uns herum, die Bäume biegen sich, die Quelle rauscht. Pascal massiert mir hingebungsvoll zart die Füße. Er sorgt für mich, und ich, die Großmutter, bin ihm keine Last. »Ich danke dir, Pascal. Gute Nacht.« - »Gute Nacht, Bella.«
Von meinem Platz aus sehe ich die bis an den Horizont reichenden Getreidefelder. Ihre Gelbtöne verblassen allmählich. Ich kann nicht schlafen. Der Wind, das Rauschen der Quelle an meinem Kopf, das harte Lager, das Neue und Ungewohnte... Plötzlich Scheinwerfer. »Pascal, ein Auto«, schreie ich, sein Reißverschluss surrt. Durch das Tuch, mit dem ich mein Gesicht abgedeckt habe, sehe ich vier kräftige Männerwaden. Im Nu bin ich von weißen Plastikkanistern umstellt. Ich muss lachen und versuche, mein Tuch aufzuknoten, aber da sind sie schon wieder weg. »Hab keine Angst, wir sind beschützt«, sagt Pascal, »wenn du nicht schlafen kannst, nimmst du mein Zelt. Weck mich, wenn du Sterne siehst.« Als ich mitten in der Nacht aufwache, funkelt der Sternenhimmel über mir. Eine Sternschnuppe zischt verglühend über den Himmel. Ich habe das Gefühl, als hätte sich aus der Milchstraße ein Stern gelöst, der sich für mich verantwortlich erklärt. Der Wind hat sich gelegt. Tiefer Friede liegt über uns.
Als wir aufwachen, geht die Sonne weißlich auf, die Felder sind fahl, der Himmel ist farblos verhangen. Wir schälen uns aus unseren Schlafsäcken, schon zieht die erste Pilgerin an uns vorüber. Pascal sammelt Ähren, mahlt die Körner zwischen zwei Steinen. In meinem Seifendöschen setzt er das Zermahlene mit Wasser aus der Quelle an. Sand knirscht zwischen den Zähnen. Froh gehen wir in den Tag hinein.
Fuente El Piojo - Frómista – Villovieco
Montag, 7. Juli
Die Gegend wird eintöniger - die Tierra de Campos. Taubenhäuser aus Lehmziegeln, viele sind zerfallen. Der Pilgerstrom tröpfelt vor
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