In Santiago sehen wir uns wieder
Antwort. Wir sitzen und sitzen. Die Kraft des Ortes tut sich kund, Wasser, Weichheit, Strömen. Wir schauen hinter die Plastikfolien, die Teile des Chors und der Querhäuser verhängen. Die Durchsichtigkeit der gotischen Architektur verbindet sich mit der Leichtigkeit der Gerüste, der Treppen und der lichten Transparenz der Folien. Dazu das Klickklack des Hämmerns, das Pfeifen der Männer. Mauersegler kreischen mitten hindurch. Draußen spielen Kinder unter Bäumen, Babys weinen, Motoren heulen - Mary und ich können uns von dem Ort nicht trennen. Etwas hält uns. So beschließt Pascal, alleine weiterzugehen. Er verabschiedet sich von uns, voller Wärme und Herzlichkeit. »Wenn du mich brauchst, Pascal, ruf mich in Deutschland an, ich rufe dich zurück«, sage ich, und Mary: »Frag die anderen unterwegs, ob sie die beiden Großmütter gesehen haben.« Am Abend sagt sie: »Ich habe für ihn gebetet, dass er eine Quelle oder den Fluss seiner Träume findet.«
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19 Uhr. Der Hospitalero lädt zu einem Gebet in der Kirche ein. Plötzlich stehe ich an einer Treppe, die hinunter führt an ein Wasser, das lindert und heilt. Meine Füße stehen hinter mir und flüstern mir leise ins Ohr: »Wag es, geh hinunter und nimm vom Wasser des Lebens, das lindert und heilt.« Da sehe ich mich bei der Annenkirche in Jerusalem sitzen, wo sich zu Jesu Zeiten der Teich Bethesda befand und wo ich vor fünfzehn Jahren die heilende Botschaft des Wassers vernahm. Was wussten die Baumeister in Jerusalem von dem Ort, an dem sie ihre Kirche erbauten? Die Templer, die in Villalcázar ihr Kloster errichteten - was wussten sie von diesem Ort?
Beim Abendessen fragt Mary: »Meinst du, dass wir sensibler werden und die Ausstrahlung eines Ortes deutlicher spüren? Irgendetwas passiert hier mit mir - ich verändere mich.« - »Ich merke«, antworte ich, »wie ich in Bewegung bin und dünnhäutiger werde. Ich kann die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Reize, denen ich ständig ausgesetzt bin, und den schnellen Wechsel der verschiedenen Ebenen kaum aushalten: Hier die Kirche mit ihrer Ausstrahlung, meine Wahrnehmungen, dann die Bar mit dem Fernseher, das laute Sprechen, der Platz mit den Kindern, die mit ihren Fahrrädern herumflitzen. Leben, quirliges Leben, ich aber bin noch dort drinnen in der Kirche...« - »Ja, wir müssen auf uns aufpassen. Rohe Eier, weißt du, muss man vorsichtig anfassen.« - »Für mich ist es immer noch schwer, auf dem Camino zu sein.« - »Ich bin länger unterwegs als du. Ich sehe vieles anders. Die anderen Menschen sind für mich wichtig, über sie finde ich den Camino. Du gehst, und dann triffst du Leute, die dir etwas geben und denen du etwas gibst. Es kommt immer unerwartet, aber es ist nie Zufall. Ich habe oft den Eindruck, dass jemand - aber dafür gibt es keinen Namen - etwas für mich arrangiert.«
Es wird dunkel auf dem Platz vor der Herberge. Die Kinder, Mütter, Väter und Großmütter sind nach Hause gegangen. Die Vögel zwitschern in den Akazien, Pilgerinnen sitzen auf den Bänken. Mauersegler fliegen ihr unermüdliches Fangen- und Kriegenspiel über Kirche und Platz. Ich verstopfe die Ohren mit Wachs, denn morgen wartet ein langer Tag.
Villalcázar de Sirga - Calzadilla de la Cueza
Mittwoch, 9. Juli
Langsam wie Schnecken mit Häusern schieben wir uns durch die Gegend. Wir lassen uns Zeit, obwohl die Hitze uns gleich auf der Römerstraße einholen wird. Der Pilgerhorror der Meseta: Siebzehn Kilometer geht es geradeaus auf Steinen, ohne Schatten, ohne Brunnen, rechts und links Gräben. Aber es ist so schön, in der Bar von Carrión de los Condes zu sitzen, zu reden, dann einzukaufen - meinen Bleistiftspitzer habe ich verloren, eine neue Creme für die Füße ist fällig, ein bisschen Brot, ein bisschen Käse, Wasser auf keinen Fall vergessen... Vor einer Madonna spüre ich erneut den kraftvollen Strom des unterirdischen Wassers. Schließlich betreten wir die Römerstraße. Heute ist Großmuttertag. Wenn wir alle halbe Stunde ein Familienfoto gemeinsam anschauen - so rechnen wir uns aus -, werden wir nach dem sechsten Bild am Ende der Piste angekommen sein.
Es ist unerträglich heiß und mühsam für die Füße. Gehen, gehen, gehen. Plötzlich sehe ich eine schemenartige Gestalt um mich schweben. Sie trägt die Züge meiner Mutter. Mir wird warm und freudig ums Herz. Dann sehe ich ein Wesen am Fenster, das zu dieser Frau möchte. Es wird geboren, und die Frau steht an der Wiege. Ich
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