In Santiago sehen wir uns wieder
erkenne meine eigenen Gesichtszüge und fühle mich willkommen auf der Erde, willkommen von meiner Mutter. Erfüllt vom Wunder meiner Geburt gehe ich weiter und weiß, dass auch dies ein Mysterium ist, das ich nie begreifen werde. Gehen, gehen, gehen. Die letzten dreißig Jahre erstehen vor mir auf: Etappen, Stationen, Situationen, Bilder - Bilder von Freundinnen, von Männern, von Geliebten... Aber alles hat sich verändert, hat an Schwere und Grimmigkeit verloren. Unter einem einsamen Baum im Halbschatten machen wir Rast. Die Stoppeln des gemähten Feldes durchbohren meine Matte. Gelbe Käfer krabbeln in jede Ritze. In der Ferne schieben sich Lastwagen magisch lautlos über den Horizont. Wir gehen weiter, Kilometer um Kilometer, Mary voraus. Kein Foto mehr, wir sind zu erschöpft, die Hitze! Und wieder ein verkrüppelter Baum ohne Schatten, eine leichte Erhebung, eine Senke, ein trockenes Flussbett, geradeaus, das Stroh in Quadern über die Stoppelfelder gestreut, der Weg, Getreide ohne Ende und - verflixt, mein Wasser geht zur Neige! Ich versuche mir vorzustellen, dass ich geschoben oder gezogen werde, dass meine Füße in kühlem Wasser stehen, ein kühles Bad - nichts hilft. Ich konzentriere mich auf den Körper. Aufrecht gehen oder sich tief in den Schritt beugen. Jetzt zieht Mary mit unglaublicher Kraft los. Ich darf sie nicht verlieren. Allein wird es ein Kampf. Plötzlich hält sie an, schaut zurück, gibt mir zu trinken und sagt: »Ein kühles Bier oder auch zwei - das wär’s jetzt.« Im selben Augenblick schält sich aus dem allgemeinen Ewigeinerleigoldgelb der Getreidefelder eine Form, die sich als Kirchturm entpuppt. »Der Turm einer Friedhofskapelle«, sagt Mary, »also ist das Dorf in der Nähe.« Eine Senke öffnet sich, ein quer zum Weg verlaufendes Tal - unter uns liegt Calzadilla de la Cueza.
»So stelle ich mir den Wilden Westen vor«, sagt Mary in der Bar bei einem kühlen Glas Bier und den restlichen Familienfotos. Alles ist weißlich und verstaubt, die Häuser nüchtern abwehrend. Bis spät in die Nacht hören wir die Motoren der Mähdrescher und der Erntewagen brummen.
Calzadilla de la Cueza – Sahagún
Donnerstag, 10. Juli
Die Sonne steigt blassgelb über den goldenen Horizont. Die Hähne beginnen zu krähen und Vögel singen. »Halt, ihr da, wartet«, ruft die Sonne. »Es ist noch früh. Eure Uhren rasen mir um Stunden voraus...« Aber die meisten Pilger sind schon losgegangen, als wir uns auf den Weg machen. Wir gehen durch kleine Dörfer. Sie spielen Verstecken mit dem Wanderer, der sich ihnen nähert. In der Ferne tauchen sie aus einer Versenkung auf, sagen >hallo< und sind plötzlich verschwunden. Eine Wegbiegung, ein paar Schritte bergab, und du stehst vor einem Brunnen mitten im Ort.
An einer kaum befahrenen Straße geht es entlang. Neben mir wandert Emilia aus Brasilien. Ihr Mann hütet daheim die drei Kinder. Im Herbst wird er den Camino gehen, sie die Kinder hüten. »Ich möchte mich selbst kennen lernen, mein drittes Auge öffnen und meine Wahrnehmung schärfen«, sagt sie. »Ich finde es verrückt, dass 800 Jahre nach seinem Tod der Körper des Heiligen Jakob entdeckt worden sein soll. Der Papst erklärt ihn per Gesetz für authentisch - das ist unglaublich. Nein, es war eine politische Entscheidung, von strategischer und kommerzieller Tragweite. Aber letztlich ist es mir egal. Wichtig ist das Gehen, und das verändert, es hat schon verändert.« Für Emilia sind es die vielen Pilger über Jahrhunderte hinweg, die den Weg zum Camino machen. »Der Weg ist zum Strom geworden, man kann nicht anders, als ihn gehen.« - »Die einzelnen Orte sind stark«, meint sie, »und jeder wieder anders. Vor Marienstatuen spüre ich oft Wasser, bei den Aposteln Feuer. In San Antón legte ich mich auf die Straße und verbrannte viel von meinem Gepäck. Santo Domingo war für mich Tod.« - ich sehe die roten Gladiolen am Sarkophag des Heiligen und am Bett meiner Mutter vor mir. »Ich habe auch Einblicke in frühere Leben gehabt«, fährt Emilia fort. Sie verstehe jetzt, warum sie immer voller Wut und Hass sei. »Dabei will ich das doch gar nicht!« Sie wisse jetzt, warum sie Rechtsanwältin sei - »Rechtsanwältin nur für Arme! Ich kann Ungerechtigkeit einfach nicht ertragen. Dabei werde ich selbst ungerecht, weil es so viel Ungerechtigkeit gibt, und das macht alles nur schlimmer. Eigentlich wäre ich gern etwas ganz anderes geworden.«
»We are so open«, sagt Mary am Abend, »wir
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