In Santiago sehen wir uns wieder
suchen, und dabei ist es gleichgültig, ob es um unsere privaten Geschichten geht oder nicht. Wir sind Teil eines Ganzen.«
Sahagún - Calzadilla de los Hermanillos
Freitag, 11. Juli
In Sahagún übernachten wir. Es ist unendlich heiß und voll in der Herberge. Das Haus kann nichts dafür, wenn die Duschen nicht funktionieren oder die Toiletten kein Licht haben. Vom einstigen Glanz des mittelalterlichen Klosters bleibt ein Bogen, durch den wir am Morgen schnell die Stadt verlassen. Wir haben uns für den ursprünglichen Jakobsweg entschieden. Einsam und landschaftlich schöner soll er sein, aber viele Kilometer ohne Dorf oder Herberge, ohne Schatten und ohne Brunnen. Der Hauptstrom der Pilger wird der neuen Trasse an der Nationalstraße folgen, die starke Bürgermeister für ihre Orte durchgesetzt haben. Pilger bringen Geld, so war es schon immer.
Weite, Ferne, Hitze, Glut, ein dunstverhangen blassblauer Himmel. Aushalten und gehen. Im Gehen nur
noch das Rotbraun der Piste wahrnehmen, Steine, das Gewicht des Rucksacks, und gehen, gehen, Stunde um Stunde. Wir wollen es so. Mein Hirn ist leer, ich kann nicht mehr denken, ich kann nicht mehr fühlen, nur noch hier sein und gehen, eins rechts, eins links. Und mit jedem Stein, über den ich hinwegstolpere, möchte ich etwas hinter mir lassen, Gramm für Gramm von meinem Gepäck abgeben. Es ist an der Zeit... Ich gehe, gehe, gehe... Weite, Ferne. Ich sehe keinen Raum mehr, nur noch Farben, durch die ich mich bewege. Das Gefühl für Zeit ist verloren, es ist die Zeit des Aufbrechens, die Zeit des Rastens, des Hungers und des Dursts, und wieder Essen, Trinken, Ausruhen, Schlafen und Aufbrechen. Alles wird träge, auch das Umschalten zwischen den Sprachen knirscht - Sand im Getriebe. Dann plötzlich ein Brunnen, ein Becken mit frischem Wasser, Bäume und Schatten. »Mary, ich bleibe hier, bitte geh voraus«, sage ich, und Mary geht voraus, noch zwei Kilometer sind es bis zur Herberge, und Betten gibt es auf jeden Fall. Ich liege im Schatten, kühle meine Füße, liege im Schatten, esse, kühle meine Füße. Die Sonne spiegelt sich auf der Oberfläche des Wassers, Kühle, Einsamkeit, Ruhe. Da kommen die Heilerin Nicola aus dem Rheinland und ihr Mann Ali aus Marokko. »Der Camino schickt dir die Menschen, die du brauchst, Bella«, sagt es in mir, und ich freue mich über eine Freundschaft, die nun beginnt.
Calzadilla de los Hermanillos. Das Dorf mit Mann, Maus und Hund scheint zu schlafen. Die Häuser sind klein, an den Boden geduckt, braune Lehmziegel oder rostrot gebrannte Ziegel, weißer Kalkbewurf. Viel Ocker, viel Gelb, und mittendrin das Giftgrün eines Autos. In einer Bar knallen die Dominospieler ihre Steine so laut auf den Tisch, dass wir, Nicola und ich, uns nicht verständigen können. Es wird Abend, die Leute kommen aus ihren Türen, gießen Blumen, hängen Wäsche auf. Frauen allen Alters sitzen unter den Bäumen und häkeln Deckchen, Umhängetücher oder Bettüberzüge. Sie fragen uns, wir versuchen zu antworten. »Gute Reise, kommt gut in Santiago an und betet für Frieden und Licht«, sagt die Hospitalera, als sie sich für die Nacht verabschiedet.
In das Herbergsbuch schreibt Nicola:
»Mögen alle Menschen das tiefe Vertrauen haben, dass die Begegnung mit ihrem Schatten ihre Chance ist, versteckte Energien zu erschließen, wie z. B. >den inneren Killer<, Aggressionen, Eifersucht, Zorn, Scham und Schuld...
In dem Augenblick, in dem wir beginnen, diese starken Emotionen zutiefst zu akzeptieren, beginnen wir, uns und anderen zu verzeihen. Wie könnten wir besser lernen, mitfühlende Menschen zu sein?«
Calzadilla de los Hermanillos – Reliegos
Samstag, 12. Juli
Ich bin glücklich. Gerade haben wir zusammen gekocht und gegessen. Wir sitzen vor der Herberge in Reliegos, es hat einige dicke Tropfen geregnet. Im Osten ballen sich schwarze Wolken, im Westen aber lacht die Sonne. Es riecht nach Feuchte und Erde, und die Hitze verkocht alles zu einem sommerlichen Pot-au-feu. Früh sind wir heute Morgen aufgebrochen. Achtzehn Kilometer ohne Wasser liegen vor uns, ein steiniger Weg. Nicola und Ali gehen voraus, Mary lässt sich von mir überholen. Auch sie sucht heute Einsamkeit. Man muss auf jeden Schritt achten. Der Wind bläst von hinten. Über die Felder schwimmt ein Güterzug, die zahllosen Waggons wie auf eine Perlenkette gereiht. Wir gehen und gehen. Kanäle, in den Senken Teiche mit quakenden Fröschen, Schilf, blaugrün und
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