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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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alles ist doppelt und dreifach und vielfach vorhanden. Was ist real, was Spiegelung? Die Orientierung verliert sich. Mein Gehen wird zu einem Gehen durch farbiges Leuchten. Die Höhe wird überirdisch, der Raum unfassbar.
    Als ich am Nachmittag zurückkomme, ist die Sonne inzwischen von Osten nach Westen gewandert. Die Lichtverhältnisse haben sich verändert. Wieder wandere ich im Kreis herum. Durch die Seitenschiffe ins Querhaus - die Rosetten glühen auf. Um den Chor herum, durch das Querhaus zurück ins Seitenschiff, auf die Westfassade zu. Eine Runde nach der anderen drehe ich. Das Funkeln der farbigen Fensterflächen oben dreht sich mit, das künstliche Licht leuchtet von unten warmgelblich dagegen. Irgendwann gebe ich es auf, sehen, erkennen, deuten, verstehen zu wollen. Ich schaue, schaue! - da ist es mir, als ginge ich durch die Krone der Jungfrau Maria hindurch, als würde mich ihr Mantel golden umhüllen. Und weil in besonderen
    Momenten alle Wünsche in Erfüllung gehen, spielt just in diesem Augenblick die Orgel eine Bach’sche Toccata - sei es auch nur ihre Leihstimme auf CD. Das Maß des Menschlichen ist überschritten. Materie, Struktur, Geometrie lösen sich auf in tausendfarbige Luftigkeit. Diaphanie. Meine Augen trinken Freude, Mauern werden gesprengt.
     

Der Weg wird heller
     
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Nachdem Dankbarkeit existiert, kann es nicht zuviel an Dankbarkeit geben. Jeden Tag für alles Danke sagen, nicht nur mit Bitte fordern. Der Camino ist großartig und man kann Gott jeden Tag tausendmal Danke sagen. Ich fühle große Erfülltheit und Zufriedenheit in mir, wie ein stiller Ozean ohne Wellen, ohne Auf und Ab, Ebbe und Flut, Feuer und Eis, nein eher wie Yin und Yang, eins-mit-sich-sein, den Sinn des Lebens gespürt zu haben, zu wissen, dass man nicht allein ist.
Sylvias Eintrag im Herbergsbuch von Mazarife
     

León - Villar de Mazarife
    Dienstag, 15. Juli
     
    Kees aus Amsterdam steht neben mir, als ich die Inschrift auf der Mauer in La Virgen del Camino abschreibe. Zusammen gehen wir weiter. León mit seinen Vorstädten und Industrievierteln verschwindet langsam in der Ferne. Wir gelangen auf eine karge Hochebene, niedrige Büsche, ein rotbrauner Lehmweg. Der Himmel wird schwärzer und schwärzer. »Vielleicht regnet es«, sagt ein alter Mann in einem Dorf, »vielleicht auch nicht.« Wir gehen sehr schnell, und dann fängt es an zu blitzen und zu donnern. Gehen auf einer Hochfläche bei Gewitter - ich weiß mich beschützt und habe doch Angst. Es regnet. Wir hüllen unsere Rucksäcke in ihre Regenüberzüge und laufen los. Im Nu klebt die rote Erde an den Stiefeln fest. Blitz - Donner, Blitz - Donner, ich zähle, das Gewitter ist weit weg, und wir sitzen tropfnass in einer Bar. Mein Schienbein schmerzt, ich bin zu schnell gelaufen.
    In Villar de Mazarife wartet Sylvia aus München auf mich, meine Zimmernachbarin von heute Nacht. Wir belegen unsere Betten, hängen die nassen Sachen auf, gehen einkaufen. Dann sitzen wir drei, Kees, Sylvia und ich, auf einem kleinen Platz in der Nähe der Herberge und schreiben Texte. Wir lesen sie einander vor, schreiben weiter. »Uff«, sagt Sylvia, »jetzt weiß ich überhaupt, warum ich den Camino mache. Es ist gar nicht der Telefonterror von dem Typ, der mich hierher getrieben hat. Ich habe... ich habe«, sie schluckt und ihre Augen werden weit und feucht, »ich habe meine Trauer um einen Tod gefunden.« Auch Kees’ Text gefällt uns, beim zweiten Versuch wird er ärgerlich: »Bei mir schiebt sich immer das Hirn dazwischen - ich gehe jetzt weiter. Buen camino«, und weg ist er. Und ich?
     
    Als ich mich auf den Weg machte, war es schon dunkel. »Wo willst du hin?« hörte ich eine Stimme sagen, »du bist so schnell.« Überrascht drehte ich mich um, konnte aber niemanden sehen. »Wo bist du?« fragte ich in die Finsternis hinein. »Lass dein Herz leuchten«, war die Antwort. Da sah ich am Boden einen winzigen Schatten sich langsam auf mich zubewegen.»Wer bist du?« fragte ich. »Du kennst mich nicht? Dann wird es Zeit ... « kicherte es vor mir. »Du bist...du bist ... du...« stotterte ich. »Ich bin Amanda.« Da erkannte ich zu meinen Füßen die Schnecke. Ich musste lachen. »Wir kennen uns, meinst du?« - »Schon. Aber in letzter Zeit warst du zu dunkel und schwer. Aber jetzt ...« - »Amanda!«, rief ich und Heiterkeit erfüllte mich. »Mein Lachen, meine Freude kehrt zu mir zurück - als Schnecke! Wenn das meine Füße wüssten... « -

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